Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 357

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tarste Pflicht einer wirklich proletarischen Taktik und mit ein Mittel, die damalige Demonstrationsbewegung bald zum Stillstand zu bringen.

Indem Genosse Kautsky jetzt wieder die strenge Trennung der Wahlrechtsbewegung von den großen wirtschaftlichen Massenkämpfen befürwortet, stützt er theoretisch gerade jenen Geist in der Partei, aus dem heraus sich die Neigung unserer führenden Parteikreise erklärt, am liebsten Demonstrationen nur mit Organisierten zu veranstalten, jenen Geist, der die ganze Wahlrechtsbewegung als ein unter strengem Kommando der oberen Instanzen nach genauem Plane und Vorschrift ausgeführtes Manöver auffaßt, statt in ihr eine große historische Massenbewegung, ein Stück des großen Klassenkampfes zu sehen, der aus allem seine Nahrung schöpft, was den heutigen Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem herrschenden Klassenstaat ausmacht.

Mit einem Worte, Genosse Kautsky stützt theoretisch just die Vorurteile und Beschränktheiten in der Auffassung unserer leitenden Kreise, die ohnehin jeder größeren und kühneren politischen Massenaktion in Deutschland im Wege stehen und die zu überwinden das dringende Interesse der jetzigen Wahlrechtsbewegung gebietet.

III

Kommen wir zur Hauptsache.

Genosse Kautsky sucht die Frage, ob jetzt in Deutschland an einen Massenstreik gedacht werden könne, auf die breite Basis einer allgemeinen Theorie über Strategien zu stellen. Bis zum Pariser Kommuneaufstand sei für die revolutionären Klassen die „Niederwerfungsstrategie“ maßgebend gewesen, seitdem aber sei die „Ermattungsstrategie“ an ihre Stelle getreten. Dieser „Ermattungsstrategie“ verdanke die deutsche Sozialdemokratie ihr ganzes Wachstum und ihre bisherigen glänzenden Erfolge, und wir hätten keinen Grund, jetzt mit einem Massenstreik diese siegreiche Strategie zu verlassen, um zur Niederwerfungsstrategie überzugehen. Die Auseinandersetzungen des Genossen Kautsky über die zwei Strategien und die Vorteile der Ermattungsstrategie sind offenbar der wichtigste Pfeiler seiner Argumentation. Namentlich verleiht Genosse Kautsky seiner Stellungnahme dadurch die größte Autorität, daß er seine „Ermattungsstrategie“ direkt zum „politischen Testament“ Friedrich Engels’ erklärt.[1] Leider beruht hier die ganze Argumentation auf einem

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[1] In seinem Artikel „Was nun?“ hat sich Karl Kautsky auf Friedrich Engels’ „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ (1895)]“ (in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, Berlin 1970, S. 509–527) bezogen, die er für die Begründung seiner Auffassungen falsch interpretierte.