Rede im Prozeß vor dem Gericht in Weimar
[1]Nach einem Zeitungsbericht
Ich bin erstaunt über die große Leichtfertigkeit, mit der ein Vertreter des öffentlichen Rechts die Sozialdemokratie beschuldigt hat, den Straßenkrawall in Hamburg[2] verschuldet zu haben.
Vorsitzender: Ich muß Sie auffordern, mit Ihren Ausdrücken etwas vorsichtiger zu sein.
Genossin Luxemburg (fortfahrend): In Hamburg hat sich gerade die Sozialdemokratie gegen diese Ausschreitung ausgesprochen, und es ist gerichtlich festgestellt, daß die Sozialdemokratie daran nicht schuld war. Im übrigen hat der Staatsanwalt sich über den erregten Ton meiner Rede ausgesprochen. Man kann sehr wohl erregt sprechen und dabei eine rein wissenschaftliche Auffassung zum Vortrag bringen, und man kann anderseits sehr ruhig sprechen und dabei eine sehr aufreizende unwissenschaftliche Rede halten. Wir Sozialdemokraten haben es nicht nötig, durch Reden auf unsern Parteitagen zum Massenstreik aufzureizen, wir halten im Gegenteil eine derartige Aufreizung für ein anarchistisches Hirngespinst. Wir stehen auf dem wissenschaftlichen Standpunkt, daß Gewalttätigkeiten immer von den herrschenden Klassen ausgehen. Unsre Aufgabe ist es, die Volksmassen aufzuklären und zu organisieren. Man sagt, meine Rede sei revolutionär gewesen. Alle Reden von Sozialdemokraten sind revolutionär, aber revolutionär nur in dem Sinne, daß sie eine völlige und gründliche Umwälzung der bestehenden Verhältnisse erstreben. Diesen Standpunkt habe ich auch in meiner letzten Broschüre über den Massenstreik[3] vertreten. Gerade ich stehe auf dem Standpunkt, daß man
[1] Redaktionelle Überschrift. – Rosa Luxemburg war auf Grund ihrer Rede über den politischen Massenstreik auf dem Jenaer Parteitag 1905 wegen „Aufreizung zu Gewalttätigkeiten“ angeklagt und vom Landgericht Weimar zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden.
[2] 80 000 Hamburger Arbeiter hatten am Nachmittag des 17. Januar 1906 die Arbeit niedergelegt, um in Versammlungen und mit Straßendemonstrationen gegen die Einschränkung des Bürgerschaftswahlrechtes zu protestieren. Es war der erste politische Massenstreik in Deutschland. Während des Streiks war es zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Polizei gekommen.
[3] Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. In: GW, Bd. 2, S. 91–170.