Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 189

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einen großen Massenstreik nicht künstlich beschließen kann. Es ist dann gesagt worden, ich habe so oft auf die russische Revolution Bezug genommen. Man darf nicht vergessen, daß die russische Revolution das erste geschichtliche Experiment ist, an dem der Massenstreik studiert werden kann. Auch jeder bürgerliche Gelehrte muß, wenn er den Massenstreik studieren will, ihn in Rußland studieren. Daraus kann nicht geschlossen werden, daß wir glauben, den russischen Massenstreik auf deutschen Boden künstlich verpflanzen zu können. Dann muß berücksichtigt werden, daß ich vor dem Parteitag sprach, vor der Elite der deutschen Arbeiterschaft. Es bedeutet eine ungeheure Unterschätzung der politischen Reife und der intellektuellen Kraft unsrer sozialdemokratischen Agitatoren, wenn man glaubt, daß man sie durch eine Rede zu Gewalttätigkeiten aufreizen kann. Es liegt ferner darin eine Unterschätzung der politischen Reife der deutschen Arbeiterklasse überhaupt. Ich hätte die Rede, die ich in Jena hielt, vor jeder Volksversammlung halten können. Die deutschen Arbeiter haben bewiesen, daß sie ihre Leidenschaften im Zaum halten können. Denn wenn sie bei Gesetzentwürfen wie der Zuchthausvorlage[1], der Umsturzvorlage[2] und dem gegenwärtigen Antigewerkschaftsgesetz[3] sich nicht zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen, so lassen sie dies auch nicht durch eine Rede auf dem sozialdemokratischen Parteitage. Die Urheber jener Gesetze gehörten auf die Anklagebank, nicht ich. Ich schließe mit der Bitte um Freisprechung, nicht, weil ich die Mühe und Plage der Gefängnisstrafe fürchtete – in dieser Beziehung ist mir nichts mehr Wurscht –, aber ich würde eine Bestrafung für schädlich halten für die Weiterentwicklung der Debatten innerhalb unsrer Partei.

Leipziger Volkszeitung, Nr. 288 vom 13. Dezember 1906.

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[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden.

[2] Am 6. Dezember 1894 hatte die Regierung im Reichstag den „Entwurf eines Gesetzes, betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse eingebracht. Diese sogenannte Umsturzvorlage sollte die Unterdrückungspolitik gegen die Sozialdemokratie gesetzlich sanktionieren. Angesichts der Massenproteste, besonders des energischen Kampfes der Sozialdemokratie, wurde die Vorlage in zweiter Lesung am 11. Mai 1895 im Reichstag abgelehnt.

[3] Die Regierung hatte dem Reichstag am 12. November 1906 den “Entwurf eines Gesetzes, betreffend gewerbliche Berufsvereine“ vorgelegt, durch den die Berufsvereine die Rechtsfähigkeit erlangen konnten. Ziel des Gesetzes war, die Aktionsfähigkeit der Gewerkschaften zu beschränken. Durch Auflösung des Reichstags am 13. Dezember 1906 wurde die Vorlage aufgehoben.