Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 269

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/269

Das Begräbnis der Maifeier

Die Tagesordnung des Parteitags[1] enthält in diesem Jahre hauptsächlich Sichtung der vollbrachten Arbeit der Partei auf ihren verschiedenen Tätigkeitsgebieten: der parlamentarischen, organisatorischen und agitatorischen Arbeit. Neue taktische Aufgaben oder theoretisch-prinzipielle Fragen stehen nicht zur Verhandlung, und die zahlreichen Anträge zu den verschiedenen Punkten der Tagesordnung zeigen leider auch, das muß man gestehen, kein besonders reges Bild der geistigen Arbeit in diesem Moment. Ein Gegenstand jedoch kann den Leipziger Parteitag leicht zu einem Wendepunkt in der Entwicklung der Arbeiterbewegung machen: Es ist dies die Lösung, die er der Frage der Maifeier geben wird. Denn darüber muß man sich klar sein: Der Leipziger Parteitag ist berufen, nicht über diese oder jene nebensächliche Einzelheiten in der Ausführung der Maifeier, nicht über diese oder andere Art der Unterstützung der Maiopfer zu befinden, sondern über die Kardinalfrage: Soll die Maifeier, wie sie seit Jahrzehnten zum ehernen Bestand der sozialdemokratischen Kampftaktik in Deutschland und zum sozialistischen Evangelium in der ganzen Welt gehört, aufrechterhalten oder soll sie endgültig preisgegeben werden. Es ist ein Stück „Revision“, das hier wieder der Partei zugemutet. wird, und zwar Revision nicht an ihrem theoretischen Rüstzeug, was ein angesichts seiner Aussichtslosigkeit verhältnismäßig harmloserer Zeitvertreib ist, sondern ein Stück Revision an der praktischen Tätigkeit, und zwar an einer der wenigen Methoden der unmittelbaren Betätigung der breitesten Massen.

Eigentlich muß man den Kreisen in der Partei und unter den Gewerkschaftsbeamten, die auf eine glatte Abschaffung der Maifeier hinarbeiten, ehrlich zugeben, daß sie mit ihrer systematischen, unermüdlichen Arbeit seit Jahren bereits ein gut Stück ihres Zieles erreicht haben. Denn man

Nächste Seite »



[1] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 12. bis 18. September 1909 in Leipzig statt.