Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 515

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„Praktische Politik“

I

Leipzig, 27. Mai

Die „Schwäbische Tagwacht“ sucht in einer sehr langen Artikelserie (bis jetzt sind acht „Rückblicke“ erschienen) dasjenige nachzuholen, was richtiger vor der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart[1] hätte geschehen sollen: eine Aussprache über die Möglichkeiten und Bedingungen einer sozialdemokratischen Kandidatur zum Oberbürgermeisteramt. Bei diesem verspäteten Versuch fällt jedoch dem aufmerksamen Leser ein Umstand sofort auf: So ausgedehnt räumlich die „Rückblicke“ unsres Stuttgarter Blattes sind, so vermeiden sie doch bis jetzt peinlich, auch nur mit einem Wort auf die Kernpunkte der Frage einzugehen.

Ist das Amt des Oberbürgermeisters überhaupt ein Posten für sozialdemokratische Betätigung, ist es vereinbar mit der Auffassung, mit den Prinzipien unsrer Partei? Zur Beantwortung dieser Fragen würde offenbar als Material vor allem eine kritische Würdigung der Tätigkeit der bisherigen Vorsteher Stuttgarts, der Herren Rümelin, Gauß usw„ dienen. Über dieses Kapitel hüllt sich die „Schwäbische Tagwacht“ nach wie vor in Schweigen. Wir hatten die Stuttgarter Genossen auf ein sehr lehrreiches Beispiel, auf Offenbach[2] hingewiesen. Die „Schwäbische Tagwacht“ geht auch auf diese Tatsache mit keiner Silbe ein. Und doch hätte sie allen Grund, gerade über den Fall in Hessen reiflich nachzudenken. Die Offenbacher Genossen haben es seinerzeit abgelehnt, einen Sozialdemokraten auf den Posten des Oberbürgermeisters zu stellen. Und dabei hatten sie ja die Mehrheit im Gemeinderat. In Frankreich haben unsre Genossen den Bürgermeisterposten in mehreren Kommunen erobert, aber – ganz abgesehen davon, daß Frankreich eine Republik ist – dort wird der Bürger-

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[1] Zu der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters in Stuttgart am 12. Mai 1911 als Kandidaten aufgestellt. Bei der Wahl erlitt er eine Niederlage. „Mit der Kandidatur Lindemann haben die Stuttgarter Genossen der Partei die größte Überraschung bereitet [… und] diese Überraschung [war] keineswegs freudiger Natur. […] Doch die näheren Umstände jener Stuttgarter Versammlung vom 4. Mai bringen noch weitere Überraschungen. Auf die Erklärung des Genossen Dr. Lindemann hin, daß nach seiner genauen Prüfung der Organisationsbeschlüsse mit ihnen die Ausübung des Oberbürgermeisteramts unmöglich sei, da er volle Freiheit in der Ausübung der Repräsentationspflichten, namentlich auch in dem amtlichen Verkehr mit der Krone brauche, wurde ihm von der Versammlung die Freiheit ausdrücklich zugestanden, die Organisationsbeschlüsse der Partei mit Füßen zu treten.“ Rosa Luxemburg: Gefährliche Neuerungen. In: GW, Bd. 2, S. 505.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Gefährliche Neuerungen. In: GW, Bd. 2, S. 506 f.