Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 516

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meister von der Mehrheit des Gemeinderats gewählt, so daß ein sozialdemokratischer Ortsvorsteher von vornherein Vertreter einer ihm gleichgesinnten Gemeindemehrheit ist. Wie liegen die Dinge in Stuttgart? Hier sollte ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister ohne sozialdemokratische Mehrheit in den Vertretungskollegien, im Gemeinderat und Bürgerausschuß, seines Amtes walten! Auch wenn man durchaus nicht vom prinzipiellen Standpunkt die Sache erfassen will, sondern sie als „praktischer Politiker“ betrachtet, muß doch die Frage beantwortet werden: Wie denkt sich die „Schwäbische Tagwacht“ eigentlich die Situation eines solchen Oberbürgermeisters, der mit einer gegnerischen, bürgerlich-reaktionären Mehrheit im Gemeinderat und Bürgerausschuß ständig zu tun hat? Der Bürgermeister ist vor allem das ausführende Organ des Gemeinderats. Die württembergische Gemeindeordnung schreibt im Artikel 63 ausdrücklich vor, daß der Ortsvorsteher „für den Vollzug der gefaßten Beschlüsse (des Gemeinderats – R. L.) sorgt, auf Grund derselben im Namen des Gemeinderats die erforderlichen schriftlichen Erklärungen abgibt und die ergehenden Verfügungen unterzeichnet“. Freilich, der Oberbürgermeister ist nicht bloß ausführendes Organ des Gemeinderats, er hat noch unabhängig von dem letzteren mannigfache Amtsbefugnisse, auf die wir später eingehen. Aber sein erster Beruf ist doch der Vollzug der Beschlüsse des Gemeinderats. In welcher Lage befindet sich nun ein Oberbürgermeister, der berufen ist, Beschlüsse eines Gemeindekollegiums auszuführen, dessen Mehrheit fast in allen Fragen der Gemeindepolitik einer ihm entgegengesetzten Auffassung huldigt? Muß er nicht auf Schritt und Tritt mit seinen sozialdemokratischen Überzeugungen oder aber mit der Mehrheit des Gemeinderats in Konflikt geraten? Ja, eine solche Situation wäre für niemanden unhaltbarer als gerade für einen Sozialdemokraten. Denn nach unsrer ganzen Auffassung soll ja ein Beamter nichts andres als ausführendes Werkzeug der gewählten Vertretung des Volkes sein. Der Umstand, daß der Ortsvorsteher in Württemberg in direkten Wahlen von der Gemeindebürgerschaft gewählt wird, ändert nichts an der Sache. Unser Programm fordert die direkte Wahl aller Beamten des Staats. Und doch ergibt es sich aus unsrer ganzen demokratischen Auffassung, daß die Beamten bloße Werkzeuge der jeweiligen Volksvertretung sein sollen. Hörte man freilich die große Programmrede Dr. Lindemanns und las man die Artikel der „Schwäbischen Tagwacht“ während des Wahlkampfs, dann konnte man beinahe zu der Überzeugung gelangen, der Stuttgarter Oberbürgermeister sei ein zum unumschränkten Schalten und Walten nach eigenem Gutdünken berufener Herr. Das „Ich“des Dr. Lindemann und alles

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