Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 124

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stand und Straßenkampf aber noch nicht herangereift. Die liberale Episode ist vorbei, die proletarische hat noch nicht wieder begonnen. Die Bühne bleibt vorläufig leer.

IV

Wir haben im vorigen in wenigen knappen Zügen die Geschichte des Massenstreiks in Rußland zu skizzieren gesucht. Schon ein flüchtiger Blick auf diese Geschichte zeigt uns ein Bild, das in keinem Strich demjenigen ähnelt, welches man sich bei der Diskussion in Deutschland gewöhnlich vom Massenstreik macht. Statt des starren und hohlen Schemas einer auf Beschluß der höchsten Instanzen mit Plan und Umsicht ausgeführten trocknen politischen „Aktion“ sehen wir ein Stück lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich gar nicht aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden läßt, das durch tausend Adern mit dem ganzen Drum und Dran der Revolution verbunden ist.

Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, daß er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend. Er eröffnet plötzlich neue, weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen Engpaß geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrunde wie ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser Erscheinungen wird klar: Es liegt nicht in dem Massenstreik selbst, nicht in seinen technischen Besonderheiten, sondern in dem politischen und sozialen Kräfteverhältnis der Revolution. Der Massenstreik ist bloß die Form des revolutionären Kampfes, und jede Verschiebung im Verhältnis der streitenden Kräfte, in der Parteientwicklung und der Klassenscheidung, in der Position der Konterrevolution, alles das beeinflußt sofort auf tausend unsichtbaren, kaum kontrollierbaren Wegen die

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