Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 237

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II Rede in der Kommission „Militarismus und internationale Konflikte“

[1]

Ich habe mich zum Worte gemeldet, um im Namen der russischen und polnischen sozialdemokratischen Delegation daran zu erinnern, daß wir namentlich bei diesem Punkte der Tagesordnung auch der großen russischen Revolution gedenken müssen. Als bei der Eröffnung des Kongresses Vandervelde mit der ihm eigenen Eloquenz der Dankespflicht an die Märtyrer genügte, haben wir alle den Opfern, den Kämpfern gehuldigt. Aber ich muß doch offen sagen, als ich da nachher manche Reden, so besonders die Vollmarsche Rede hörte, da kam mir der Gedanke, wenn hier die blutigen Schatten der Revolutionäre wären, so würden sie sagen: „Wir schenken euch euere Huldigung, aber lernt von uns!“ Und es wäre ein Verrat an der Revolution, wenn Sie das nicht täten. Auf dem letzten Kongreß 1904 in Amsterdam[2] wurde die Frage des Massenstreiks erörtert. Es wurde ein Beschluß gefaßt, der uns als unreif und unvorbereitet für den Massenstreik erklärte. Aber die materialistische Dialektik, auf die sich Adler überzeugungsvoll berufen hat, hat sofort verwirklicht, was wir für unmöglich erklärt haben. Ich muß mich gegen Vollmar und leider auch gegen Bebel wenden, die sagten, wir wären nicht in der Lage, mehr als bisher zu tun. Aber die russische Revolution ist nicht nur aus dem Krieg[3] entsprungen, sondern sie hat auch dazu gedient, den Krieg zu unterbrechen. Der Zarismus hätte sonst sicher den Krieg weitergeführt. Die geschichtliche Dialektik gilt für uns nicht in dem Sinne, daß wir mit verschränkten Armen zusehen, bis sie uns reife Früchte bringt. Ich bin eine überzeugte Anhängerin des Marxismus und betrachte es gerade darum als eine große Gefahr, der marxistischen Auffassung jene starre, fatalistische Form zu geben, die nur dazu führt, solche Exzesse wie den Hervéismus[4] als Reaktion hervorzurufen. Hervé ist ein Enfant, allerdings ein Enfant terrible. (Heiterkeit.) Wenn Vollmar sagte, daß Kautsky nur für seine Person gesprochen habe, so gilt dies doch noch viel mehr für Vollmar. Es ist Tatsache, daß die große Masse des deutschen Proletariats die Anschauungen Vollmars desavouiert hat. Es war auf dem Parteitag in Jena, wo nahezu einstimmig eine Resolution beschlossen wurde[5], die bewies,

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Der Internationale Sozialistenkongreß fand vom 14. bis 20. September 1904 in Amsterdam statt.

[3] Von Januar 1904 bis September 1905 hatte Japan einen imperialistischen Krieg gegen Rußland um die Vorherrschaft im Fernen Osten geführt. Die schwere Niederlage der russischen Truppen im Jahre 1905 schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.

[4] Nach der Auffasung Gustave Hervés sollte jeder Krieg mit Streik und Aufstand beantwortet werden, ohne die jeweilige historische Situation zu berücksichtigen.

[5] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.