Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 205

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Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands vom 13. Mai bis 1. Juni 1907 in London

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I Begrüßungsrede

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Genossen! Als der Parteivorstand der deutschen sozialdemokratischen Partei von meiner Absicht erfuhr, an Ihrem Parteitag teilzunehmen, beschloß er, diese Gelegenheit zu nutzen, und beauftragte mich, Ihnen seinen brüderlichen Gruß und die besten Wünsche für den Erfolg zu übermitteln.

Das millionenstarke, bewußte deutsche Proletariat verfolgt mit lebhafter Anteilnahme und größter Aufmerksamkeit den revolutionären Kampf seiner russischen Brüder, und die deutsche Sozialdemokratie hat bereits in der Tat bewiesen, daß sie gewillt ist, aus dem reichen Erfahrungsschatz der russischen Sozialdemokratie fruchtbringende Lehren für sich zu ziehen. Mit dem Beginn des Jahres 1905, als in Petersburg der erste Donner des revolutionären Gewitters rollte, nach den Kundgebungen des Proletariats am 9. Januar, setzte in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie eine Belebung ein. Sie fand ihren Ausdruck in den hitzigen Debatten über Fragen der Taktik, und die Resolution des Jenaer Parteitages über den Massenstreik[3] war die erste wichtige Schlußfolgerung, die unsere Partei aus dem Kampf des russischen Proletariats zog. Dieser Beschluß hat zwar bisher keine praktische Anwendung gefunden und wird wohl kaum in der nächsten Zukunft verwirklicht werden, aber seine prinzipielle Bedeutung ist offensichtlich. Bis zum Jahre 1905 herrschte in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie in bezug auf den Massenstreik eine absolut negative Einstellung; er wurde als eine rein anarchistische Losung und folglich als eine reaktionäre, schädliche Utopie betrachtet. Aber sobald das deutsche Proletariat in dem Massenstreik der

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Redaktionelle Überschrift.

[3] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.