Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 206

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russischen Arbeiter eine neue Kampfform zu sehen begann, die nicht im Gegensatz zum politischen Kampf, sondern als eine Waffe in diesem Kampf anzuwenden ist, nicht als ein wundertätiges Mittel, um einen plötzlichen Sprung in die sozialistische Ordnung zu vollziehen, sondern als ein Mittel des Klassenkampfes zur Eroberung der elementarsten Freiheiten im modernen Klassenstaat, beeilte es sich, seine Einstellung zum Massenstreik von Grund aus zu ändern und anzuerkennen, daß er unter bestimmten Bedingungen auch in Deutschland anwendbar ist. Genossen! Hierbei halte ich es für notwendig, Ihre Aufmerksamkeit auf den Umstand zu lenken, daß das deutsche Proletariat zu seiner großen Ehre seine Einstellung zur Frage des Massenstreiks geändert hat, ohne sich im geringsten von den Eindrücken der äußeren Erfolge dieser Kampfesweise, die sogar bürgerlichen Politikern zu imponieren vermag, leiten zu lassen. Die Resolution des Jenaer Parteitages wurde etwas mehr als einen Monat vor dem ersten und bisher einzigen großen Sieg der Revolution, vor den denkwürdigen Oktobertagen, die dem Absolutismus konstitutionelle Zugeständnisse in Gestalt des Manifests vom 17. Oktober[1] entrissen, angenommen. Noch erlitt der revolutionäre Kampf in Rußland nur Niederlagen, aber das deutsche Proletariat fühlte bereits mit seinem richtigen Klasseninstinkt, daß sich hinter diesen äußeren Niederlagen ein nie dagewesener Aufschwung der proletarischen Kräfte, ein sicheres Unterpfand der künftigen Siege, vorbereitet. Es bleibt eine Tatsache, daß sich das deutsche Proletariat, schon bevor die russische Revolution irgendwelche äußeren Erfolge hatte, beeilte, ihrer Erfahrung seinen Tribut zu zollen, indem es seinen früheren Kampfformen eine neue taktische Losung hinzufügte, die schon nicht mehr auf die parlamentarische Tätigkeit berechnet ist, sondern auf das unmittelbare Auftreten der breitesten proletarischen Massen.

Die weiteren Ereignisse in Rußland – die Oktober- und Novembertage und besonders der Höhepunkt selbst, auf den sich die revolutionäre Welle erhob, die Dezemberkrise in Moskau[2] – spiegelten sich in Deutschland in einem noch größeren Aufschwung der Stimmung und in einer starken Gärung in den Köpfen der Sozialdemokratie wider. Im Dezember und Januar – nach den großen Demonstrationen in Österreich wegen des allgemeinen Wahlrechtes[3] – begann in Deutschland eine lebhafte Diskussion darüber, ob es nicht an der Zeit sei, unmittelbar in dieser oder jener Form den Beschluß über den Massenstreik in Verbindung mit dem

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[1] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks in Rußland gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest vom 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Preiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[2] In Moskau hatte auf Beschluß des Moskauer Sowjets am 20. Dezember 1905 ein Generalstreik gegen die zaristische Selbstherrschaft begonnen. Der Streik ging in den bewaffneten Aufstand über und nahm gesamtrussischen Charakter an. Den zaristischen Truppen gelang es, die Aufstände niederzuschlagen.

[3] Von Oktober bis Dezember 1905 fanden in Österreich-Ungarn auf Beschluß der Sozialdemokratischen Partei Österreichs Massenstreiks und Massendemonstrationen für das allgemeine Wahlrecht statt.