Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 201

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Die Maifeier

Die Maifeier ist ein lebendiges historisches Stück des internationalen proletarischen Klassenkampfes, und deshalb spiegelt sie in sich seit bald 20 Jahren getreu alle Phasen, alle Momente dieses Kampfes wider. Äußerlich genommen, ist es immer dieselbe monotone Wiederholung gleichlautender Reden und Artikel, gleichlautender Forderungen und Resolutionen. Deshalb glauben auch diejenigen, deren Blicke nur an der starren Oberfläche der Dinge haften und die das innere unmerkliche Werden der Verhältnisse nicht herausfühlen, die Maifeier hätte durch die Wiederholung ihre Bedeutung verloren, sie sei beinahe „eine leere Demonstration“ geworden. Allein unter der äußerlich gleichen Erscheinungsform birgt die Maifeier in sich den wechselnden Puls des proletarischen Kampfes, sie lebt zusammen mit der Arbeiterbewegung und verändert sich daher mit ihr, gibt in dem eigenen Ideengehalt, in der eigenen Stimmung, in der eigenen Spannung die wechselnden Situationen des Klassenkampfes wieder.

Drei große Phasen hat die Maifeier in ihrer inneren Geschichte durchgemacht. In den ersten Jahren, wo sie sich die Bahn brechen mußte, wurde sie mit gespannten Erwartungen und gehobener Stimmung von dem Proletariat aller Länder begrüßt. Die Arbeiterklasse reihte eine neue Waffe ihrem Rüstzeug ein, und die ersten Versuche mit dieser Waffe spannten das Kraftgefühl und die Kampffreude der Millionen Ausgebeuteter und Unterdrückter hoch. Auf der anderen Seite begegnete aber die Bourgeoisie aller Länder der neuen Kundgebung des Klassenkampfes mit höchster Angst und tiefstem Hasse. Der Gedanke der internationalen sozialistischen Demonstration erschien ihr als das wiedererstehende Gespenst der alten verhaßten Internationale, der kühne Anlauf zu einer gleichzeitigen Weltarbeitsfeier als das Totengeläute der ganzen kapitalistischen Herr‑

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