Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 200

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in den Herzen Hunderttausender Kämpfer im fernen Rußland ein unvergängliches Denkmal errichtet.

Doch gibt es etwas in der markanten Persönlichkeit unseres verstorbenen Führers, was die Blicke der russischen Sozialdemokratie ganz besonders fesseln muß, es war nämlich etwas in unserem Ignaz Auer, was ihn teuer macht jeder sozialdemokratischen Partei, die eine wirkliche Arbeiterpartei sein will. Das ist: Er war ein echter Sohn des Volkes, ein einfacher Proletarier, der sich durch eigenen Fleiß, durch eiserne Energie, durch höchsten Idealismus, durch glänzende Begabung zu der Stellung eines Parteiführers großen Stils emporgearbeitet hat. Ein echter Volksmann, hatte er auch auf den höchsten Zinnen der Partei nicht nur Fühlung mit der proletarischen Masse bewahrt, nein, er war und blieb bis zum letzten Atemzug Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Bein. Und das ist es gerade, was der russischen Sozialdemokratie am meisten not tut, das ist auch die wunde Stelle der heutigen revolutionären Kämpfe in Rußland, daß die junge russische Arbeiterbewegung noch nicht Zeit gehabt hat, aus eigenen Reihen des Proletariats solche Führer hervorzubringen. Dies ist auch die einmütige Meinung, die tiefe Überzeugung aller Kämpfer und Freunde der proletarischen Sache in Rußland: Erst wenn das russische Proletariat imstande sein wird, nicht bloß begeisterte und todesmutige Soldaten, sondern auch kluge, weitblickende Feldherren aus eigener Mitte zu stellen, Feldherren, Strategen und Organisatoren von der Größe und von der Begabung Auers, ganz abgesehen von ihren jeweiligen Ansichten und ihrer Geistesrichtung, dann erst wird die Sache des Sozialismus wie der Revolution in Rußland ein Rocher de bronze sein, der jedem Sturme trotzig die Stirn bieten kann. Erst wenn die russische Arbeitermasse solche Söhne wie Ignaz Auer aus ihrem Schoße gebären wird, dann wird das Wort unserer Lehrmeister von der Befreiung der Arbeiterklasse selbst auch in Rußland in Erfüllung gehen.

Und deshalb hängen in diesem Augenblick die Blicke der russischen Sozialdemokratie an der Bahre Ignaz Auers mit innigster Verehrung. In den Petersburger Kasematten, in den Bergwerken Sibiriens, in den Folterkammern der Ostseeprovinzen, in den steinernen Käfigen des polnischen Weichselgebietes trauert heute alles, was die Nationen Rußlands an Edelsten besitzen, und überall sagen sich die Kämpfer der Revolution: Heute wird ein Mann zur letzten Ruhe bestattet, dessen Lebenswerk uns als leuchtendes Vorbild vor den Augen schweben muß, dem nachzuleben und nachzustreben unser, der Lebenden, Ziel sein und bleiben wird.

Vorwärts (Berlin), Nr. 88 vom 16. April 1907.

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