Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 484

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Klassenkampf und Tagespolitik. Rede am 16. Oktober 1910 in Stuttgart in einer Volksversammlung

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Wir leben in einer tiefernsten Zeit. Jeder Tag bringt uns neue Beweise, daß in den herrschenden Kreisen ein scharfer Wind gegen die Sozialdemokratie weht. Überall merkt man das heiße Bemühen, den Kampf auf des Messers Spitze zu treiben und einen blutigen Zusammenstoß mit den Massen der Sozialdemokratie herbeizuführen. Man braucht nur an die Vorgänge in Moabit[2], Köln-Deutz[3] und Remscheid zu denken. Als am letzten Sonntag die Arbeiterschaft Berlins gegen die Greueltaten von Moabit protestieren wollte[4], hat man ganze Wagenladungen von Revolvern parat gehalten. Diese Tatsachen muß man zusammenhalten mit Vorgängen während des preußischen Wahlrechtskampfes[5], dann wird es auch dem Blinden klarwerden, daß in diesem ganzen Vorgehen System liegt. Der Zweck aller dieser Provokationen ist leicht zu erraten. Die scharfmacherische Presse hilft uns mit ihrer Offenherzigkeit auf die Spur. Man sucht Vorwände, um gegen Sozialdemokratie und Gewerkschaften Zuchthausgesetze zu erlassen. Es ist ja kein Wunder, daß die herrschenden

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Zwischen dem 19. September und 8. Oktober 1910 kam es zu den Moabiter Unruhen, die durch einen Lohnstreik von 140 Kohlenarbeitern und Kutschern der Firma Kupfer & Co. in Berlin-Moabit ausgelöst worden waren. Nach dem Einsatz von bewaffneten Streikbrechern und Polizeitruppen weitete sich der Kampf zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und der Staatsgewalt aus, an der etwa 20 000 bis 30 000 Menschen beteiligt waren. Der Streik wurde gegen den Willen vieler Arbeiter vom Transportarbeiterverband abgebrochen. Bis Mitte Oktober fanden in vielen Orten Deutschlands Protestversammlungen gegen die Polizeiüberfälle in Moabit und gegen die hohen Gefängnisstrafen für einige verurteilte Arbeiter statt.

[3] Während eines Streiks der Bauhilfsarbeiter in Köln-Deutz war es am 3. Oktober 1910 zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern, Streikbrechern und Polizei gekommen.

[4] Am 9. Oktober 1910 hatten in Berlin 21 Protestversammlungen gegen die Polizeiüberfälle in Berlin-Moabit stattgefunden, denen weitere in vielen Orten Deutschlands folgten.

[5] Seit Mitte Januar 1910 war es in allen Teilen Deutschlands ständig zu Massenbewegungen gekommen, auf denen Hunderttausende Demonstranten das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Personen über 20 Jahre in Preußen gefordert hatten.