Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 485

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Klassen so nervös sind. Seit einem Jahr folgt für sie ein Nackenschlag dem andern. Der preußische Wahlrechtskampf hat gezeigt, daß die sozialdemokratischen Massen zur Massenaktion fähig sind. Die Nachwahlen haben den Feinden Niederlage auf Niederlage gebracht[1]; auch der sozialdemokratische Parteitag in Magdeburg[2] hat sie enttäuscht. Er hat ihnen nichts anderes als die Faust des revolutionären Proletariats entgegengehalten. Es ist daher erklärlich, wenn die herrschenden Klassen zu dem Abc der Bismarckschen Gewaltpolitik zurückkehren. Wir dürfen alle diese Vorgänge nicht auf die leichte Achsel nehmen. Das Unwahrscheinlichste, das Verkehrteste und Brutalste ist heute in Deutschland das Allerwahrscheinlichste. Als praktische Politiker haben wir daher allen Grund, uns die Situation klarzumachen. Die heutige Situation gleicht in mancher Beziehung den Zeiten, in denen Bismarck sein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie schuf. Auch damals waren die herrrschenden Klassen aus mancherlei Ursachen zur Nervosität gereizt.

Die Rednerin schildert die politischen Ursachen, die Entstehung und den Zweck des Ausnahmegesetzes.

Für Bismarck war das Sozialistengesetz nur ein Mittel, die materiellen und politischen Interessen der arbeitenden Klassen zurückzudrängen und der reaktionären Politik der herrschenden Klassen wieder vollständig freie Bahn zu machen. Auch jetzt fehlt es den herrschenden Klassen nur noch an einem Ausnahmegesetz, um denjenigen die Gurgel zuzudrücken, die an den politischen Zuständen Kritik üben. Es gibt also Analogien mit der Zeit der Schaffung des Sozialistengesetzes genug. Es gibt aber auch abgrundtiefe Unterschiede. Es sind inzwischen 32 Jahre rapider Entwicklung des deutschen Kapitalismus dahingegangen. Während damals die Sozialdemokratie bei den Wahlen 500 000 Stimmen auf sich vereinigte und die Gewerkschaften erst 50 000 Mitglieder zählten, verfügt die Sozialdemokratie heute über 3 bis 4 Millionen Stimmen, und die Gewerkschaften zählen 2 Millionen Mitglieder. Wenn wir die herrschenden Klassen von heute mit denen vor 30 Jahren vergleichen, so erscheinen uns die letzteren in wahrhaft paradiesischer Unschuld. Das Deutsche Reich erlebte noch die Nachwirkungen seiner Gründungszeit. Es erlabte sich noch an den erbeuteten 5 Milliarden Kriegsentschädigung, es erlebte noch einen großen industriellen Aufschwung, der nach dem ersten großen Krach

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[1] Vom 1. August 1908 bis 31. Juli 1911 hatten bei den 37 Nachwahlen zum Reichstag die bürgerlichen Parteien einen Verlust von über 135 000 Stimmen zu verzeichnen, wahrend die Sozialdemokratie mehr als 24 000 Stimmen gewinnen konnte.

[2] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Magdeburg fand vom 18. bis 24. September 1910 statt.