Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 486

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eingetreten war. Die deutsche Bourgeoisie hatte damals noch den Glauben an ihre eigene Mission. Damals blühte in Deutschland noch der Freihandel. Auch die ostelbischen Agrarier waren, weil sie den Schutzzoll noch nicht brauchten, Freihändler. Sie nannten sich sogar unverschämte Freihändler. Sie sind inzwischen zwar aus Freihändlern Schutzzöllner geworden, aber unverschämt sind sie bis heute geblieben. (Heiterkeit.) Heute braucht man keine Kraftgenies wie Bismarck, um mit der deutschen Bourgeoisie fertig zu werden. Heute genügen Kautschukmännchen à la Bülow oder Ledermänner à la Bethmann Hollweg. (Beifall.) Die 30 Jahre Entwicklung des Kapitalismus haben einen gänzlichen Zusammenbruch des deutschen Liberalismus gebracht. Um das zu beweisen, braucht man nur auf den gewaltigen Wahlrechtskampf in Preußen hinzuweisen. Es ist das ein Kampf, der nicht bloß Preußen angeht. Es ist ein Kampf, der für Euch alle gekämpft wird. Es ist beschämend, daß die preußischen Arbeitermassen noch um ein Recht kämpfen müssen, das zu den elementarsten Bedingungen des parlamentarischen Staates gehört, um ein Recht, das durch die siegreiche Revolution im Jahre 1848 schon erkämpft war, durch den Verrat des Liberalismus an der Revolution aber wieder verlorengegangen war. Damals galt es, die Freiheit zur Tat überzuführen. Die Bourgeoisie hätte damals alle öffentlichen Ämter und alle öffentliche Gewalt, die der Reaktion diente, an sich reißen müssen, sie hätte vor allem, wie es jetzt in Portugal geschehen ist, das auserwählte Instrument des Himmels über Bord werfen sollen[1] (Stürmischer Beifall.) und mit ihm noch Dutzende kleiner Instrumente des Himmels, um nicht nur die Freiheit, sondern auch die Einheit Deutschlands zu schaffen und es aus der Misere der Kleinstaaterei zu erlösen, die heute sogar noch in den Köpfen mancher Proletarier kleinbürgerliche Illusionen nährt. Wäre das geschehen, so hätten wir heute nicht nötig, noch um ein so elementares Recht wie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu kämpfen, dann hätten wir es nicht nötig, so kühne Provokationen zu hören wie die letzten Reden des Kaisers, nach welchen der an der Spitze des Staates stehende Mann sich nicht richten will nach der öffentlichen Meinung, sondern nach den Eingebungen des Herrn im Himmel.[2] (Heiterkeit.) Der

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[1] Am 5. Oktober 1910 hatten in Lissabon bürgerliche Republikaner mit Unterstützung der Armee in einer revolutionâren Erhebung die Monarchie gestürzt und die Republik ausgerufen.

[2] Am 25. August 1910 hatte Wilhelm II. in einer Rede in Königsberg seinen Willen bekundet, unter Mißachtung der Verfassung und des Reichstags das persönliche Regiment zu stärken. Die Ankündigung neuer Militârausgaben enthielt zugleich eine indirekte Drohung gegenüber England. Das provokatorische Auftreten des Kaisers hatte im In- und Ausland Aufsehen und Empörung erregt, so daß seine Rede in Marienburg am 29. August 1910 als eine gewisse Korrektur der ersten betrachtet wurde.