Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 487

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Herr im Himmel hat zur Aufrechterhaltung seines auserwählten Instruments leider noch keinen Pfennig beigesteuert (Heiterkeit.), während die Massen des Volkes 20 Millionen aus ihren Steuern jährlich dafür hingeben müssen.

Die Rednerin streift kurz die historischen Vorgänge, die zum preußischen Dreiklassenwahlrecht führten, und schildert sodann die Entwicklung des Liberalismus.

Schon unter Bismarck war der Nationalliberalismus ein williges Werkzeug aller reaktionären Maßnahmen der Regierung. Heute sind sie bis zu der im Volksmund üblichen Bezeichnung Partei „Drehscheibe“ gelangt. Die Nationalliberalen zeigen durch ihre ganze Geschichte, daß der Glaube, auf diesem abgestorbenen Baume könnte ein neues Reis grünen, eine kindische Utopie, eine hoffnungslose Torheit wäre. Daß durch eine Verbindung mit dem Nationalliberalismus nur die Sozialdemokratie zu leiden hat, zeigt das Experiment, welches unsere Genossen in Baden gemacht haben.[1] Der Freisinn ist ganz dieselben Wege gegangen wie der Nationalliberalismus. Wenn sich heute die drei freisinnigen Fraktionen wieder zusammengefunden haben[2], so nur deshalb, weil sie sich alle drei in den Sumpf der Reaktion heruntergewirtschaftet haben. Wer daran zweifeln wollte, der braucht nur an die traurige Rolle zu denken, die der Freisinn im Bülow-Block[3] gespielt hat. War es nicht der Freisinn, der am meisten dazu beigetragen hat, den Schwarz-Blauen Block[4] zusammenzuzimmern? Die Freisinnigen haben den schamlosesten Reaktionären die Mandate zugeschanzt. Dessen werden wir uns wohl auch bei den nächsten allgemeinen Wahlen zu versehen haben. Es wäre eine Torheit, sich Illusionen darüber hinzugeben. Man denke nur an die veränderte Haltung der bürgerlichen Presse und der bürgerlichen Parteien gegenüber der Kaiserrede vom Jahre 1908[5] und der letzten Kaiserrede. Diesmal ließ die bürgerliche Presse jede Opposition vermissen. Im Jahre 1908 ist der Liberalismus zwar für das einfachste Mittel gegen die unzeitgemäßen Reden des Kaisers, das Gottesgnadentum überhaupt abzuschaffen, natürlich nicht zu haben gewesen, aber er machte damals doch wenigstens noch den scheinbaren Versuch, als Retter der Rechte des Proletariats aufzutreten. Diesmal

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[1] Unter dem Vorwand, den reaktionärsten Parteien, den Konservativen und dem Zentrum, eine „aktionsfähige Mehrheit“ entgegenzustellen, hatten Sozialdemokraten im badischen Landtag im Widerspruch zu den Grundsätzen und Beschlüssen der Sozialdemokratischen Partei mit den Nationalliberalen einen Block gebildet und aktiv die Politik der bürgerlichen Regierung unterstützt.

[2] Am 10. November 1848 war unter dem Befehl des Generals Friedrich von Wrangel in Berlin Militär einmarschiert, um den konterrevolutionären Staatsstreich in Preußen zu unterstützen. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf.

[3] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903. Nach den Wahlen hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block (Hottentottenblock) zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen.

[4] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.

[5] Am 28. Oktober 1908 war in der Londoner Zeitung „Daily Telegraph“ ein Interview Wilhelms II. veröffentlicht worden, das erhebliches Aufsehen erregte. Der deutsche Kaiser hatte darin behauptet, daß sein Feldzugsplan den englischen Truppen zum Sieg über die Buren verholfen hätte, und versucht, Frankreich und Rußland gegen England auszuspielen. In vielen Städten Deutschlands kam es zu Protestversammlungen und im Reichstag zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Affäre offenbarte die Brüchigkeit des bürokratisch-halbfeudalen Regierungssystems in Deutschland und zeigte, daß große Teile des deutschen Volkes mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden waren.