Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 488

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hat aus Anlaß der Kaiserrede die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ zu einer Sammlung aller bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie aufgerufen. Wir werden daher bei den nächsten Reichstagswahlen[1] nichts anderes zu erwarten haben als im Jahre 1907[2].

Wie sehen die Resultate der kapitalistischen Entwicklung in den letzten 30 Jahren aus? Deutschland ist zu einem der ersten Industriestaaten der Welt geworden. Das ist ausschließlich einer drückenden und gesundheitsschädlichen Arbeit der Millionen der proletarischen Masse zu verdanken. Diese Entwicklung hat zur Folge gehabt, daß Hunderttausende von blutigen Opfern auf dem Schlachtfelde der Industrie geblieben sind, und auf der anderen Seite ist das Ergebnis dieser Entwicklung der gänzliche Zusammenbruch des deutschen Liberalismus und der deutschen Demokratie. Es ist unsere Aufgabe, dem Proletariat diese Tatsachen klar vor Augen zu halten, damit wir unsere ganze Kraft für die kommenden Kämpfe bereithalten. Wir müssen uns klar sein, daß wir nur durch den Appell an die proletarischen Massen etwas erreichen können und daß wir, wenn wir uns lediglich auf die Massen des Proletariats stützen, in diesem eine viel gewaltigere Kraft auslösen als durch irgendwelches Bündnis.

Die Rednerin geht auf die wirklichen und angedrohten Aussperrungen der letzten Monate ein, die der Arbeiterschaft die Lehre geben, dem brutalen Mittel der Massenaussperrung das Mittel des Massenstreiks entgegenzusetzen.

Diese Massenaussperrungen haben keinen anderen Zweck, als das Proletariat zu einer großen Kraftprobe zu provozieren, um dann mit Zuchthausgesetzen zu antworten, durch die die Gewerkschaften zertrümmert werden sollen. Wer kann es wissen, wann wir die nächste Kraftprobe zu bestehen haben? Es ist unsere Lebensaufgabe, solchen Kraftproben gerüstet entgegenzugehen, um auf die Massenaussperrung mit dem Mittel des Massenstreiks zu antworten. (Beifall.) Bei der letzten angedrohten Aussperrung haben die Führer des Metallarbeiterverbands instinktiv diese Taktik proklamiert, weil sie die einzige war, die der proletarischen Würde entsprach. Das lehrt uns, daß wir diese Taktik auch bewußt für alle Fälle zur Anwendung zu bringen haben. Wenn die übermütigen Kapitalmagnaten erst ein paarmal verspürt haben, daß jeder Schlag, den sie gegen das Proletariat führen, auf sie zurückfällt, verdoppelt und verdreifacht durch die Wucht des Massenstreiks, dann wird ihnen wohl für immer die Lust zu Hungerkuren am Leibe des Proletariats vergehen. Auf die Provokation,

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.

[2] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903. Nach den Wahlen hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block (Hottentottenblock) zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen.