Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 141

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VI

Zusammenhang damit bekommt auch die Frage von der Organisation in ihrem Verhältnis zum Problem des Massenstreiks in Deutschland ein wesentlich anderes Gesicht.

Die Stellung mancher Gewerkschaftsführer zu der Frage erschöpft sich gewöhnlich in der Behauptung: „Wir sind noch nicht stark genug, um eine so gewagte Kraftprobe wie einen Massenstreik zu riskieren.“ Nun ist dieser Standpunkt insofern ein unhaltbarer, weil es eine unlösbare Aufgabe ist, auf dem Wege einer ruhigen, zahlenmäßigen Berechnung festzustellen, wann das Proletariat zu irgendeinem Kampfe „stark genug sei“. Vor 30 Jahren zählten die deutschen Gewerkschaften 50 000 Mitglieder. Das war offenbar eine Zahl, bei der, nach dem obigen Maßstab, an einen Massenstreik nicht zu denken war. Nach weiteren 15 Jahren waren die Gewerkschaften viermal so stark und zählten 237 000 Mitglieder. Wenn man jedoch damals die heutigen Gewerkschaftsführer gefragt hätte, ob nun die Organisation des Proletariats zu einem Massenstreik reif wäre, so hätten sie sicher geantwortet, daß dies bei weitem nicht der Fall sei und daß die gewerkschaftlich Organisierten erst nach Millionen zählen müßten. Heute gehen die organisierten Gewerkschaftsmitglieder bereits in die zweite Million, aber die Ansicht ihrer Führer ist genau dieselbe, was offenbar so ins Unendliche gehen kann. Stillschweigend wird dabei vorausgesetzt, daß überhaupt die gesamte Arbeiterklasse Deutschlands bis auf den letzten Mann und die letzte Frau in die Organisation aufgenommen werden müsse, bevor man „stark genug sei“, eine Massenaktion zu wagen, die alsdann, nach der alten Formel, sich auch noch wahrscheinlich als „überflüssig“ herausstellen würde. Diese Theorie ist jedoch aus dem einfachen Grunde völlig utopisch, weil sie an einem inneren Widerspruch leidet, sich im schlimmen Zirkel dreht. Die Arbeiter sollen, bevor sie irgendeinen direkten Klassenkampf vornehmen können, sämtlich organisiert sein. Die Verhältnisse, die Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung und des bürgerlichen Staates bringen es aber mit sich, daß bei dem „normalen“ Verlauf der Dinge, ohne stürmische Klassenkämpfe, bestimmte Schichten – und zwar gerade das Gros, die wichtigsten, die tiefstehenden[1], die vom Kapital und vom Staate am meisten gedrückten Schichten des Proletariats – eben gar nicht organisiert werden können. Sehen wir doch selbst in England, daß ein ganzes Jahrhundert unermüdlicher Gewerkschaftsarbeit ohne alle „Störungen“ – ausgenommen im An‑

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[1] 1. Auflage: tiefststehenden.