Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 542

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Eine Revision

Leipzig, 16. Juni

Die Bedeutung der angenommenen Reichsversicherungsordnung[1] ist durch ihre unmittelbare Einwirkung auf die soziale Lage der Arbeiterschaft keineswegs erschöpft. Sie ist auch geeignet und berufen, die gesamte politische Situation zu beleuchten und namentlich das Schlagwort vom „Schwarz-Blauen Block“[2], das unser politisches Leben in den letzten Jahren beherrschte, einer Revision zu unterziehen.

Der Schwarz-Blaue Block war eine Schöpfung der Parteikämpfe auf dem Boden der Finanzreform[3], der Steuerfragen. Allein die Steuerfragen sind kein ausreichender, unzweideutiger Prüfstein für die Klassenphysiognomie der bürgerlichen Parteien. Die Steuerlast eines modernen Großstaates trifft ganz empfindlich nicht bloß das Proletariat, sondern auch die mittlere Bourgeoisie und das Kleinbürgertum in Stadt und Land. Ja, nichts ist so geeignet, den zahmsten Philister in Harnisch zu bringen, als wenn ihm „Vater Staat“ mit seinen langen Fingern zu tief in die Tasche greift. Bei den französischen „Radikalen“, der typischen Partei des Kleinbürgertums, war neben der Trennung der Kirche vom Staate namentlich die Einkommensteuer jahrzehntelang das Paradepferd des Programms und das Steckenpferd des „Ministerstürzers“ Clemenceau[4]. In Deutschland ist freilich der schwere Schritt des Militarismus zermalmend über die weichen Knochen unsrer Liberalen hinweggegangen, und schon das Bismarcksche Regime hat sie im Mißbrauch indirekter Steuern korrumpiert,

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[1] Am 30. Mai 1911 war im Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen worden, ohne daß die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters berücksichtigt wurden. Gegen den weiteren Abbau der demokratischen und sozialen Rechte der Werktätigen hatte es wiederholt Protestversammlungen gegeben.

[2] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.

[3] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.

[4] Georges-Benjamin Clemenceau, Abgeordneter und führender Vertreter des bürgerlichen Radikalismus in Frankreich, hatte in Opposition zu den bürgerlich-gemäßigten Politikern gestanden und 1882 die Kabinette Gambetta und de Freycinet sowie 1885 das Kabinett de Freycinet gestürzt.