Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 543

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das Gewissen in ihnen erstickt. Wenn sie bei der Finanzreform für den leichten Puff auf die Taschen der Besitzenden in Gestalt einer kümmerlichen Erbschaftssteuer waren, so geschah dies freilich nur, um vor der Wählermasse ein Feigenblatt für die 400 Millionen Mark indirekter Steuern zu haben. Immerhin war diese Rücksicht auf die Steuerempfindlichkeit der Wähler stark genug, daß sich die Liberalen um dieses Feigenblatts willen ihre kurze Regierungsherrlichkeit von konservativen Gnaden haben kosten lassen.

Ganz anders klar und unzweideutig zeigen die Fragen der sozialen Gesetzgebung die politische Scheidung auf. Hier, wo es sich um den Schutz für Leben und Gesundheit, um Existenzbedingungen der Proletarier handelt, um den Schutz der Ausgebeuteten vor den vernichtendsten Folgen der kapitalistischen Ausbeutung, hier greifen die Fragen direkt in die Klassenverhältnisse ein, sie berühren das Wohl und Wehe der Arbeiter als einer besonderen Gesellschaftsschicht, die ihre Knochen unter die erbarmungslose Walze der kapitalistischen Profitmacherei zu tragen gezwungen ist, sie legen den Finger in die Wunde der sozialen Frage. Bei der Reichsversicherungsordnung sind alle Nebenrücksichten vor dem nackten Ausbeuterinteresse verstummt, hier sprach nur der elementare Haß der bürgerlichen Klassen gegen die aufstrebende Arbeiterklasse, und er hat glücklich alle Parteien, von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken mit Einschluß von 24 „Fortschrittlern“, zu einer Phalanx vereinigt. Der Schwarz-Blaue Block ist damit von der öffentlichen Bühne abgetreten, er hat sich bei der Reichsversicherungsordnung in einem größeren Lager aufgelöst, das Blockbrüder mit Blockgegnern gegen die Arbeiterschaft zusammengeschlossen hat, die feindlichen Lager aus den Zeiten der Steuerkämpfe haben sich in einer höheren Einheit verschmolzen: in dem Herrschaftsinteresse der Ausbeutersippe gegen das ausgebeutete Proletariat. An Stelle der Finanzreform ist somit in den Vordergrund der politischen Bühne die Reichsversicherungsordnung getreten, und diese ist es, nicht jene, die das Stichwort für die kommenden Reichstagswahlen[1] abgeben muß, die namentlich für die Wahlagitation der Sozialdemokratie maßgebend ist.

Nicht als ob die gestrigen Sünden der Finanzreform vergessen oder in den Schatten gestellt werden sollten. Im Gegenteil, die Finanzreform als ein volksfeindlicher Raubzug der junkerlichen und pfäffischen Mehrheit muß naturgemäß eine der hervorragendsten Stellen in unsrer Agitation einnehmen. Aber sie ist nicht mehr geeignet, zur Kennzeichnung der

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.