politischen Situation im ganzen zu dienen. Die Reichsversicherungsordnung hat eine wesentliche Korrektur daran vollzogen, sie hat den durch vorübergehende Nebeneinflüsse in Verwirrung geratenen Kompaß der politischen Lage richtiggestellt, an Stelle einer parlamentarischen Konstellation die soziale Klassenscheidung, an Stelle des Schwarz-Blauen Blocks die „eine reaktionäre Masse“ von Heydebrand bis Naumann gesetzt. Wenn es schon früher grundverkehrt war, das Schlagwort „Gegen den Schwarz-Blauen Block!“ zur Losung der sozialdemokratischen Wahltaktik etwa machen zu wollen, so wäre dies heute einer Ignorierung der Reichsversicherungsordnung gleich, es hieße dies, unsre Wahlschlacht nach den eingefrorenen Trompetentönen aus den Zeiten der Finanzreform richten, sie nach einer Situation orientieren zu wollen, die nicht mehr vorhanden ist. Noch mehr. Während die Liberalen das Stichwort „Gegen den Schwarz-Blauen Block!“ zur Richtlinie ihrer Wahlagitation jetzt um so lärmender machen werden, als es in ihrem dringenden Interesse liegt, die Aufmerksamkeit der proletarischen Wähler möglichst von ihren schmachvollen Helfersdiensten an die Reaktion bei der Reichsversicherung abzulenken, wird es umgekehrt zur Pflicht und zum Unterscheidungsmerkmal der sozialdemokratischen Agitation, allen liberalen wie klerikalen Vertuschungs- und Ablenkungsversuchen zum Trotz die Reichsversicherungsordnung in den Vordergrund zu schieben. Wenn es noch Optimisten geben konnte, die die eine reaktionäre Masse für ein theoretisches Schema hielten, über das man streiten kann, so hat dieses „Schema“ heute in einem frischen Gesetzgebungsakt brutalen Ausdruck gefunden, auf dem die Druckerschwärze kaum trocken ist.
Die Situation der Hottentottenwahlen[1] kehrt somit bei der nächsten Reichstagswahl wieder, mit der äußerst wichtigen Änderung, daß diesmal auch das Zentrum in seiner natürlichen Rolle als Regierungspartei auftritt und keine Oppositionskomödie aufführen kann. Ja, gerade dem Zentrum gegenüber gibt uns die Reichsversicherungsordnung eine vortreffliche Waffe, um die Jesuitenpartei als blutige Feindin der Arbeiterklasse vor ihren eigenen proletarischen Anhängern zu entlarven. Hat doch das Zentrum hier für eine Vorlage gestimmt, die von den christlichen Gewerkschaften selbst auf ihrem Kongreß in Köln im Jahre 1909[2] mit den schärfsten Worten als ein Attentat auf die Rechte der Arbeiter gebrandmarkt worden ist, das um jeden Preis zum Scheitern gebracht werden müsse.
Wenn man von unsrer Wahltaktik spricht, so ist darunter natürlich in
[1] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903. Nach den Wahlen hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block (Hottentottenblock) zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen.
[2] Der siebente Kongreß christlicher Gewerkschaften fand vom 18. bis 21. Juli 1909 in Köln statt.