Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 545

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erster Linie der Zuschnitt unsrer Agitation bei den Wahlen und nicht etwa unser Verhalten bei den Stichwahlen gemeint. Daß wir dort, wo die Entscheidung von uns abhängt, für das geringere Übel eintreten, ist so selbstverständlich, daß diese Frage etwa zur Diskussion stellen wollen soviel hieße wie offene Türen einrennen und von der eigentlichen Frage ablenken. Allerdings wird auch die Entscheidung über dies „geringere Übel“ für die Sozialdemokratie immer schwieriger. Bebel hat sich in seiner Hamburger Rede von Ende März – laut Bericht im „Vorwärts“ – folgendermaßen geäußert:

„Bei den Stichwahlen sind unsre Ansprüche an die bürgerlichen Kandidaten, die wir unterstützen wollen, notgedrungen immer bescheidener geworden, weil die bürgerliche Opposition immer unzuverlässiger geworden ist. Es gibt heute keine bürgerliche Partei mehr, die in bestimmten Fragen so wie früher mit uns übereinstimmt. Aber als mindestes müssen wir verlangen, daß ein Kandidat, der unsre Stimmen in der Stichwahl haben will, uns fest verspricht, erstens für Aufrechterhaltung des Reichstagswahlrechts, zweitens gegen jede Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechts, drittens gegen jedes Ausnahmegesetz, das sich gegen die Arbeiterklasse richten könnte, einzutreten. Tut er das nicht, so sind wir für ihn nicht zu haben."[1]

Befolgt man diese Regel, dann entsteht jetzt eine große Frage gegenüber der Mehrzahl der jetzigen fortschrittlichen Abgeordneten, die teils passiv, teils aktiv für das schlimmste Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterklasse eingetreten sind – haben doch von den 48 Mann nur 10 gegen die Reichsversicherungsordnung, 24 für sie gestimmt, während sich 14 um die Abstimmung gedrückt haben. Doch ist die Hauptsache nicht die Entscheidung bei den Stichwahlen, die in jedem einzelnen Fall von unsern Genossen genau geprüft wird, sondern es ist der Charakter der Agitation, die wir in der Presse, in Flugblättern und in Versammlungen treiben – ob bei der Haupt- oder bei der Stichwahl, ob in Kreisen, wo die Liberalen unsre Hauptgegner, oder dort, wo sie zwischen uns und den Rechtsparteien den Ausschlag geben. Jede Schonung der Liberalen wäre auch rein parlamentarisch ein Fehler. Je schärfer und rücksichtsloser wir sie kritisieren, um so mehr Sympathie und Zustimmung erwerben wir bei den spärlichen wirklich fortschrittlichen Elementen des Bürgertums, denen die Sünden ihrer eigenen Partei zornige Röte ins Gesicht jagen. Die prinzipientreue Politik wird auch hier die einzig praktische sein. Die übrigen Elemente des Liberalismus aber, die vom Krebs der Reaktion zerfressenen,

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[1] Die Rede Bebels. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 76 vom 30. März 1911.