Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 546

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gewinnen wir nicht durch noch so diplomatische Schonung. Die maßgebenden Fortschrittler vernichten selbst nach Kräften alle Illusionen. Sagte doch z. B. der Abgeordnete Eickhoff in seiner Wählerversammlung vom 17. Oktober in Remscheid ganz offen:

„Unvergeßlich sind mir und sicher auch Ihnen allen die Tage der Reichstagswahl von 1907. Die liberalen Parteien bildeten damals mit den Anhängern der Freikonservativen Partei eine große Schlachtlinie, und als dann in der Stichwahl die andern bürgerlichen Parteien – vergessend, was uns trennte – uns ihre Hilfe liehen, da brachten wir dem gemeinsamen Gegner eine Niederlage bei, so vernichtend, wie sie die Sozialdemokratie in unserm Wahlkreise noch nicht erlebt hatte ... Nun, meine Herren, möge denn diese Wahl von 1907 uns allen ein Vorbild sein!“

Und diesem Eickhoff, der sich in seinem Wahlkreis von den eigenen Parteifreunden jede Agitation gegen die Konservativen verbeten hatte, ist auf dem jüngsten Parteitag der Fortschrittlichen Volkspartei für Rheinland von den Kopsch und Wiemer gegen die Klagen einiger Freisinnigen mit mehr Schamgefühl Recht gegeben worden.

Es ist dies keine vereinzelte oder zufällige Erscheinung. Ein tiefgreifender reaktionärer Zug geht gegenwärtig durch das gesamte Bürgertum, ein Zug, dessen reißende Fortschritte man sozusagen mit den Händen greifen, im Verlauf von wenigen Monaten wahrnehmen kann. Die Nachwahlen des letzten Jahres hatten den radikaleren Freisinnsblättern einigen Anlaß zum Jubeln über den „Ruck der Wähler nach links“ gegeben. Seitdem welche Erlebnisse! Die Nachwahl in Gießen-Nidda im März, die Bürgermeisterwahl in Stuttgart im Mai[1] – das sind zwei derbe Faustschläge ins Gesicht aller Träumer von dem liberalen Frühling unsres Bürgertums. Aber auch diese zwei aufeinanderfolgenden Fälle bilden noch unter sich eine interessante Skala in dem reaktionären Abrutsch des Freisinns. Bei der Gießener Wahl ist der Sieg der Reaktion durch die Fahnenflucht der Liberalen verursacht worden, die bei der Stichwahl, entgegen der einstimmigen Aufforderung der Vertrauensmänner der Fortschrittlichen Volkspartei, um die Wette mit den Nationalliberalen dem Antisemiten ihre Stimmen gaben, um einen Sozialdemokraten zur Strecke zu bringen. Zwei Monate später, bei der Stuttgarter Wahl, sollte es noch besser kommen: Hier haben die Volksparteiler nicht erst den Sozialdemokraten, sondern direkt ihren eigenen Parteikandidaten verraten, indem sie gleich im ersten Wahlgang ins reaktionäre Lager überliefen! Die freisinnigen Wähler folgen also ihren eigenen Parteileitungen nicht, die Masse

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[1] Zu der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters in Stuttgart am 12. Mai 1911 als Kandidaten aufgestellt. Bei der Wahl erlitt er eine Niederlage. „Mit der Kandidatur Lindemann haben die Stuttgarter Genossen der Partei die größte Überraschung bereitet [… und] diese Überraschung [war] keineswegs freudiger Natur. […] Doch die näheren Umstände jener Stuttgarter Versammlung vom 4. Mai bringen noch weitere Überraschungen. Auf die Erklärung des Genossen Dr. Lindemann hin, daß nach seiner genauen Prüfung der Organisationsbeschlüsse mit ihnen die Ausübung des Oberbürgermeisteramts unmöglich sei, da er volle Freiheit in der Ausübung der Repräsentationspflichten, namentlich auch in dem amtlichen Verkehr mit der Krone brauche, wurde ihm von der Versammlung die Freiheit ausdrücklich zugestanden, die Organisationsbeschlüsse der Partei mit Füßen zu treten.“ Rosa Luxemburg: Gefährliche Neuerungen. In: GW, Bd. 2, S. 505.