Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 547

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des Bürgertums ist noch viel reaktionärer als ihre offizielle Partei, ebenso wie die Partei in Wirklichkeit reaktionärer ist als ihre Presse. Es ist dies ein umgekehrtes Verhältnis wie in der Sozialdemokratie. Während die durch ihre soziale Lage revolutionäre proletarische Masse in ihrem klassenbewußten Teil meist radikaler ist als die Führerschaft, zeigt die Rebellion der liberalen Bürgermasse gegen ihre Führer, wie sehr die durch ihr Klasseninteresse reaktionäre Schicht nur noch mit größter Mühe an die längst verblichenen leeren Worte des liberalen Parteiprogramms angehalten werden kann.

Genau derselbe Zug setzt sich in der nationalliberalen Partei durch. Der Freisinn befolgt jetzt in seiner Verzweiflung diejenige Taktik, die der Sozialdemokratie von den revisionistischen Schwärmern einer Großblocktaktik in unserm Lager empfohlen wird: durch mildes Zudrücken eines Auges auf die Sünden des Liberalismus und bereitwillige Allianz mit ihm seine schwache Tugend aus den Umarmungen der Reaktion zu befreien und vor den Wagen des politischen Fortschritts zu spannen. Die Freisinnigen drücken auf die Sünden der Nationalliberalen beide Augen zu ; ihre ganze „liberale“ Taktik konzentriert sich darauf, der Fraktion Drehscheibe einzureden, sie sei sozusagen auch „liberal“, und auf Grund dieser holden gegenseitigen Selbsttäuschung einen Wahlschacher mit gemeinsamer Verteilung der Mandate zustande zu bringen. Was haben sie mit dieser Befolgung des „staatsmännischen“ Rezepts unsrer Revisionisten erreicht? Daß sie von den Nationalliberalen in Düsseldorf an das Zentrum, in Friedberg-Büdingen an den Bund der Landwirte, wo es angeht an die Konservativen verkauft und verraten werden. Aber auch dort, wo zwischen den beiden Parteileitungen das Geschäft mit Ach und Weh perfekt geworden ist, rebellieren die einzelnen Wahlkreise, die nationalliberalen Wählermassen und regalieren die fortschrittlichen „Alliierten“ mit Fußtritten. Die Friedberg und Bassermann schreien sich z. B. heiser, um ihre oldenburgischen Mannen von einer Gegenkandidatur gegen den Fortschrittler abzuhalten, ohne sich Gehör verschaffen zu können.

So fügt sich das anmutige Bild der jüngsten Wahlen und der Wahlvorbereitungen der liberalen Parteien zu einem geschlossenen Ganzen. Die freisinnige Wählermasse versagt den eigenen Führern die Gefolgschaft, um gegen die Sozialdemokratie Front zu machen; die nationalliberale Wählermasse versagt ihren Führern den Gehorsam, um sich gegen den Freisinn zu wenden. Jede Partei schlägt nach links aus und fällt nach rechts um, und die wenigen Parteiführer, die noch nicht ganz ihr liberales Gewissen losgeworden sind, versuchen ohnmächtig wie Phaeton die hoff-

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