Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 300

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Zeit der Aussaat

Seit Jahrzehnten vielleicht haben wir keine Situation in Deutschland, speziell in Preußen, gehabt, die für die Verbreitung der sozialdemokratischen Lehren so günstig gewesen wäre wie die gegenwärtige. Noch wirkte in den breitesten Schichten der arbeitenden Bevölkerung der Groll nach den Hottentottenwahlen[1] nach, als der Raubzug der herrschenden Klassen gegen das Proletariat, das Bauerntum und Kleinbürgertum, als die sogenannte „Finanzreform“[2] die Masse der Geplünderten und Geweißbluteten aufs tiefste empört hat. Und noch waren die Wirkungen dieses frechen Streiches gegen das materielle Wohl der Arbeitenden nicht entfernt in ihrer ganzen Tragweite zum Ausdruck gekommen, als darauf die zynische Komödie der preußischen „Wahlrechtsreform“[3] wie ein derber Faustschlag ins Gesicht des arbeitenden Volkes folgte. Als aber die Sozialdemokratie die empörten Massen der Ausgebeuteten und Entrechteten auf die Straße geführt hatte, um gegen den Frevel laut zu protestieren, da blitzten Polizeisäbel in der Luft auf, da sausten Säbelhiebe auf die Rücken der Demonstrierenden nieder, da wurden Soldaten in Kasernen konsigniert und Kanonen im Hinterhalt geladen.

So haben die Gegner für uns den Boden tausendfach vorbereitet, die Geister aufgerüttelt, die Gleichgültigen zum Groll, die Trägen zum Nachdenken. gezwungen. An uns liegt es, jetzt die Saat der Aufklärung in den Boden mit vollen Händen zu streuen. Die Brutalitäten der Polizei, die parlamentarischen Frivolitäten der Reaktionsparteien sind der nächste Anlaß, der uns die Aufmerksamkeit und die Zustimmung der breitesten Massen sichert. Für uns können sie aber nur ein Anlaß sein, um die

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[1] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

[2] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.

[3] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages. – Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Anderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen. Bei der zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1910 hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Hirsch und Karl Liebknecht erklärt, die Sozialdemokratie werde im Kampf für ein demokratisches Wahlrecht auch außerparlamentarische Mittel einsetzen.