Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 299

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sicht, die Opferfreudigkeit des Proletariats in allen Ländern unermeßlich steigern würde. Freilich können Erwägungen dieser Art nicht ein Grund für die deutsche Sozialdemokratie und die deutschen Gewerkschaften sein, sich für die Anwendung des Massenstreiks zu entschließen, wenn sich diese nicht aus der inneren Situation in Deutschland selbst ergibt. Aber bei der Berechnung des Gewinn- und Verlustkontos einer eventuellen Anwendung des Massenstreiks darf die angeführte Rücksicht sicher eine Erwähnung finden. Die deutsche Sozialdemokratie war bis jetzt für die Internationale das große Muster auf dem Gebiete des parlamentarischen Kampfes, der Organisation und der Parteidisziplin. Sie kann vielleicht bald ein glänzendes Beispiel geben, wie man alle diese Vorzüge mit einer entschlossenen und unerschrockenen Massenaktion zu verbinden versteht.

Dennoch darf keinesfalls erwartet werden, daß eines schönen Tages von der obersten Leitung der Bewegung, vom Parteivorstand und von der Generalkommission der Gewerkschaften, das „Kommando“ zum Massenstreik ergeht. Körperschaften, die eine Verantwortung für Millionen tragen, sind in ihren Entschlüssen, die doch andere ausführen müssen, von Hause aus naturgemäß zurückhaltend. Uberdies kann der Entschluß zu einer unmittelbaren Aktion der Masse nur von der Masse selbst ausgehen. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein – dieser wegweisende Satz des Kommunistischen Manifests hat auch noch die Bedeutung im einzelnen, daß auch innerhalb der Klassenpartei des Proletariats jede große, entscheidende Bewegung nicht aus der Initiative der Handvoll Führer, sondern aus der Überzeugung und Entschlossenheit der Masse der Parteianhänger herrühren muß. Auch der Entschluß, den gegenwärtigen preußischen Wahlrechtskampf gemäß dem Wort des preußischen Parteitages „mit allen Mitteln“, also auch durch das Mittel des Massenstreiks, zum Siege zu führen, kann nur durch die breitesten Parteischichten gefaßt werden. Es ist Sache der Partei- und Gewerkschaftsgenossen, in jeder Stadt und jedem Bezirk zu den Fragen der gegenwärtigen Situation Stellung zu nehmen und ihrer Meinung, ihrem Willen in klarer und offener Weise Ausdruck zu geben, damit die Meinung der organisierten Arbeitermasse als Ganzes sich Gehör verschaffen kann. Und ist das geschehen, dann werden auch unsere Führer sicher auf dem Posten sein, wie sie bis jetzt stets gewesen sind.

Arbeiter-Zeitung (Dortmund),

  1. : Nr. 61 vom 14. März 1910,

II: Nr. 62 vom 15. März 1910.

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