Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 298

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Kampf treten, die in der ganzen Internationale wohl als die am wenigsten revolutionäre, waghalsige und leichtsinnige gilt, eine Organisation, an deren Spitze ein Mann wie Gompers steht, ein kühler Politiker voller Verachtung für sozialdemokratische „Überspanntheiten“ und „revolutionäre Phrasen“. Diese Organisation wird vielleicht in der allernächsten Zeit einen umfangreichen Generalstreik proklamieren, und zwar, um die Koalitionsfreiheit von 600 Trambahnangestellten zu schützen. Daß in dieser heftigen, stündlich um sich greifenden Kraftprobe mit dem Kapital die amerikanischen Gewerkschaften zunächst ein großes Risiko laufen, unterliegt keinem Zweifel. Wer aber wird die Schritte Gompers’ in diesem Fall verurteilen, und wer wird nicht einsehen, daß diese große Kraftprobe im letzten Ende die segensreichsten Folgen für die amerikanische Arbeiterbewegung im ganzen haben kann? Den deutschen Gewerkschaften im ganzen kann es im Schluß der Rechnung auch nur nützlich sein, wenn sie dem übermütig gewordenen koalierten Kapital einmal deutlich ihre Macht zu fühlen geben.

Vom politischen Standpunkt kommt noch eins in Betracht. Im Jahre 1911 haben wir Reichstagswahlen[1], bei denen es die Generalquittung für die Hottentottenwahlen[2] zu geben gilt. Freilich haben unsere Gegner mit der Finanzreform[3] trefflich für uns vorgearbeitet. Unsererseits aber können wir uns keine glänzendere Situation schaffen als durch eine vorhergegangene große politische Massenaktion, wie sie Deutschland noch nicht erlebt hat. Durch Aufrüttelung breitester Massen, Erhöhung des Idealismus, Anspannung der Kampfenergie aufs höchste in dieser Aktion können wir einen Grad von Aufklärung und Stimmung erreichen, der die kommenden Wahlen zu einem betäubenden Waterloo für das herrschende System gestalten wird.

Vom gewerkschaftlichen wie vom politischen Standpunkt ergibt sich also gleichermaßen für uns die Weisung: Erst wägen, dann aber wagen!

Ein politischer Massenstreik in Deutschland – denn selbstverständlich kommt in diesem Fall nicht Preußen allein in Betracht, die Parteimassen des übrigen Reiches würden sicher mit Begeisterung von selbst mit ihrer Unterstützung herbeieilen –, ein deutscher Massenstreik würde die tiefgreifendste, weittragendste Wirkung auf die Internationale ausüben, er wäre eine Tatsache, die den Mut, den sozialistischen Glauben, die Zuver‑

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.

[2] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

[3] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.