Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 297

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Die wichtigste Rücksicht vom gewerkschaftlichen Standpunkt bleibt nach alledem die: Eine große Massenstreikaktion ist in jedem Fall ein starkes Risiko für den Bestand der gewerkschaftlichen Organisationen und ihrer Kassen. Können und dürfen die Gewerkschaften ein solches Risiko übernehmen? Zunächst soll das Risiko selbst gar nicht bestritten werden. Aber welcher Kampf, welche Aktion, welcher rein wirtschaftliche Streik bringt für die Kampforganisationen der Arbeiter nicht ein Risiko mit sich? Sollte gerade der machtvolle Ausbau, die zahlenmäßige Stärke unserer deutschen Gewerkschaften ein Grund sein, auf solche Gefahren im Kampfe mehr Rücksicht zu nehmen, als es schwächere Gewerkschaften in andern Ländern, zum Beispiel in Schweden, in Italien, tun, so wäre das ein gefährliches Argument gegen die Gewerkschaften selbst. Denn es liefe auf den seltsamen Schluß hinaus, daß, je größer und stärker unsere Organisationen, um so weniger aktionsfähig, weil um so zaghafter wir werden. Der Zweck selbst des starken Ausbaues der Gewerkschaften wäre damit in Frage gestellt, da wir doch der Organisationen als eines Mittels zum Zweck, als des Rüstzeugs zum Kampfe, nicht als Selbstzweck bedürfen. Diese Frage kann aber zum Glück gar nicht auftauchen. In Wirklichkeit ist die Gefahr, das Risiko, das unsere Gewerkschaftsorganisationen laufen, nur ein äußerliches. In Wirklichkeit bewähren sich gesunde, kräftige Organisationen nur im scharfen Kampfe und erstehen aus jeder Kraftprobe mit erneuten Kräften und gewachsen wieder auf. Mag ein allgemeiner politischer Massenstreik im ersten Gefolge die Schwächung oder Beschädigung mancher Gewerkschaft nach sich ziehen – nach kurzer Zeit werden nicht bloß die alten Organisationen neu aufblühen, sondern die große Aktion wird ganz neue Schichten des Proletariats aufrütteln und den Gedanken der Organisation in Kreise hineintragen, die einer ruhigen, systematischen Gewerkschaftsorganisation bis jetzt unzugänglich waren, oder sie wird für unsere Organisationen Scharen von Proletariern gewinnen, die bis jetzt unter bürgerlicher Leitung, beim Zentrum, den Hirsch-Dunckerschen, den Evangelischen verbleiben. Verluste werden bei einer gesunden, großen, kühnen Massenaktion stets von Gewinnen überwogen werden. Gerade momentan erleben wir ein lehrreiches Beispiel, wie es für die vorsichtigste Gewerkschaftsbewegung unter Umständen zur Notwendigkeit, zur Ehrensache werden kann, sich in einen großen Kampf zu stürzen, ohne ängstlich alle Chancen des Gewinnes und des Verlustes abzuwägen. Dieses Beispiel zeigt sich uns in Philadelphia.[1] Dort sehen wir eine Organisation in den

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[1] In Philadelphia hatte im Februar 1910 ein Streik der Straßenbahner begonnen. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften. In: GW, Bd. 2, S. 479 f.