Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 509

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/509

Der Disziplinbruch als Methode

Leipzig, 15. Mai

Die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart ist vorüber[1], und es fallen damit für die Gesamtpartei alle Rücksichten weg, die sie etwa im ersten Augenblick an einer kritischen Prüfung des Falls Lindemann hindern mochten. Durch die Niederlagé des sozialdemokratischen Kandidaten ist die Parteibewegung in Stuttgart vor den peinlichsten Situationen und vor unvermeidlichen inneren Reibungen und Kämpfen bewahrt worden. Nebenbei ist es interessant zu beobachten, wie sich die „praktische Politik“ des Opportunismus, die leichten Herzens die Parteigrundsätze als unnützen Plunder über Bord zu werfen bereit ist, hier selbst eine Niederlage bereitet hat. Diese Richtung, aus der heraus die Erringung eines Oberbürgermeisteramts wichtiger ist als Parteidisziplin und Parteitradition, rechnet ja hauptsächlich mit den Zukunftsproben des Liberalismus, der in Süddeutschland gemeinsam mit der Sozialdemokratie vorgehen soll. Was zeigen aber die Wahlen zum Oberbürgermeisteramt? Sie zeigen einen heftigen Ruck aller bürgerlichen Schichten nach rechts, zur Reaktion, und das unaufhaltsame Zusammenschmelzen der Volkspartei. Ja, das schönste ist, daß nach dem Geständnis freisinniger Blätter selbst, so des „Berliner Tageblatts“, ca. 1 000 volksparteiliche Wähler ihren eignen Parteikandidaten Keck verraten haben, um in das Lager des reaktionären Mischmaschkandidaten Lautenschlager zu eilen! So hat die opportunistische Spekulation, wie stets, auch in Stuttgart kläglich Schiffbruch gelitten. Allein die Umstände, unter denen die sozialdemokratische Kandidatur in Stuttgart aufgestellt und verfochten worden ist, bleiben ein wichtiges Pronunziamento im Leben der Partei, zu dem sie unbedingt Stellung nehmen muß.

Nächste Seite »



[1] Zu der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters in Stuttgart am 12. Mai 1911 als Kandidaten aufgestellt. Bei der Wahl erlitt er eine Niederlage. „Mit der Kandidatur Lindemann haben die Stuttgarter Genossen der Partei die größte Überraschung bereitet [… und] diese Überraschung [war] keineswegs freudiger Natur. […] Doch die näheren Umstände jener Stuttgarter Versammlung vom 4. Mai bringen noch weitere Überraschungen. Auf die Erklärung des Genossen Dr. Lindemann hin, daß nach seiner genauen Prüfung der Organisationsbeschlüsse mit ihnen die Ausübung des Oberbürgermeisteramts unmöglich sei, da er volle Freiheit in der Ausübung der Repräsentationspflichten, namentlich auch in dem amtlichen Verkehr mit der Krone brauche, wurde ihm von der Versammlung die Freiheit ausdrücklich zugestanden, die Organisationsbeschlüsse der Partei mit Füßen zu treten.“ Rosa Luxemburg: Gefährliche Neuerungen. In: GW, Bd. 2, S. 505.