Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 508

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ihm von der Versammlung die Freiheit ausdrücklich zugestanden, die Organisationsbeschlüsse der Partei mit Füßen zu treten.

Es ist dies ein in der Parteigeschichte unerhörter Fall vorbedachter und planmäßiger Mißachtung der Parteidisziplin. Wiederum mag man zur Frage selbst der sozialdemokratischen Lakaienbücklinge in höfischen Vorzimmern denken, wie man will – die Parteidisziplin, die unbedingte Unterordnung des einzelnen unter den Gesamtwillen der Organisation, ist das Fundament unsrer Existenz als Partei, ist das Lebenselement jeder Massenpartei, die als geschlossene Macht auftreten will. Und da gibt es keine Ausnahme, keine Absolutionen von der Pflicht der Disziplin. Denn die Disziplin bindet entweder alle in der Partei, oder sie ist für niemanden verpflichtend. Was dem Dr. Lindemann als Oberbürgermeister recht, ist unsern Gemeinderäten, Landtags- und Reichstagsabgeordneten und schließlich jedem Genossen billig. Deshalb ist die Frage der Parteidisziplin auch keine lokale Angelegenheit der Stuttgarter Genossen, die über mehr verfügten, als sie besitzen, wenn sie aus eigner Macht einen sozialdemokratischen Vertreter, und zwar auf einem so exponierten Posten, im Angesicht der bürgerlichen Welt, vom Gehorsam gegenüber der Parteidisziplin entbinden zu können glaubten.

Alle diese Momente machen den Beschluß der Stuttgarter Versammlung vom 4. Mai so schwer begreiflich, daß man – namentlich aus der Kenntnis der Denkweise der überwiegenden Mehrheit der Stuttgarter Genossen heraus – diesen Beschluß am ehesten als ein Zufallsprodukt einer momentanen Stimmung oder einer ungewöhnlichen Zusammensetzung der Versammlung ansehen möchte. Jedenfalls hat die Gesamtpartei allen Grund, gegen dieses unüberlegte Experiment ihr Veto einzulegen, und unser Parteivorstand wäre wohl berufen, sein warnendes Wort an die Stuttgarter Genossen zu richten. Eine zweite Parteiversammlung in Stuttgart dürfte kaum zur Wiederholung und Bestätigung des gewagten Beschlusses gelangen.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 105 vom 9. Mai 1911.

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