Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 202

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lichkeit. Daher die wahnwitzigsten Vorbereitungen der ersten Jahre, um den Gefahren der Maifeier mit brutaler Polizei- und Militärgewalt zu begegnen. Und als Avantgarde dieser waffenstarrenden Kolonne der erschrockenen Bourgeoisie stürzte sich die „freie Republik“ Frankreich in den Kampf, erst hinter ihr der zarische Absolutismus. Das erste Proletarierblut um die Sache der Maifeier floß im Jahre 1891 in Fourmies[1]; im Jahre 1892 gab es eine blutige Maischlacht in Russisch-Polen[2], in Lódz[3].

Aber bald beruhigten sich die herrschenden Klassen und erkannten den rein demonstrativen Charakter der Maifeier. Andererseits sollte in der Arbeiterbewegung ein langer Abschnitt des vorwiegend parlamentarischen Kampfes und des ruhigen Ausbaus der politischen und gewerkschaftlichen Organisation folgen. Das Geburtsjahr der Maifeier brachte in Deutschland den Fall des Sozialistengesetzes, 1893 eroberte sich das Proletariat in Belgien[4], 1896 in Österreich[5] den Zutritt zum Parlament. Allenthalben bringen die neunziger Jahre eine Periode emsiger gewerkschaftlicher Arbeit und eines unaufhaltsamen Wachstums der parlamentarischen Vertretung der Arbeiterklasse. Vor dem Kampfe vermittels der Arbeitervertretung in den Parlamenten tritt die Demonstration der Arbeitermassen selbst, vor der positiven Betätigung und dem Ausbau der Arbeiterparteien in jedem Lande für sich tritt der Gedanke der internationalen Gemeinschaft des Proletariats in den Schatten. Die Maifeier wird allmählich zu einem friedlichen Volksfest, dem die bürgerliche Gesellschaft mit ziemlicher Seelenruhe zuschaut.

In den letzten Jahren tritt nun eine merkliche Verschiebung in der Situation der Arbeiterbewegung ein. Ein scharfer Wind weht wieder über dem Kampffeld. Im Osten die große russische Revolution. In Deutschland

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[1] Am 1. Mai 1891 fand in der nordfranzösischen Stadt Fourmies eine Arbeiterdemonstration statt, bei der die Polizei auf die Demonstranten schoß.

[2] Russisch-Polen, Kongreßpolen, Königreich Polen: Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte „Kongreßpolen“ bzw. „Königreich Polen«“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[3] Zum 1. Mai 1892 fand in Łódź ein Generalstreik statt, der von den zaristischen Behörden blutig unterdrückt wurde.

[4] Im April 1893 war es in Belgien zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zu einem politischen Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen, an dem sich etwa 250 000 Arbeiter beteiligten. Als Ergebnis dieses Streiks mußte das belgische Wahlrecht wesentlich erweitert werden.

[5] [Fußnote im Original]: Auf Grund der Streiks und Demonstrationen des österreichischen Proletariats für das allgemeine Wahlrecht sah sich die österreichische Regierung zu Zugeständnissen gezwungen. 1896 trat eine Wahlrechtsreform in Kraft, die auf einem von Ministerpräsidenten Eduard Taaffe 1893 vorgelegten Gesetzentwurf basierte. Zu den vier bestehenden Wählerklassen wurde eine fünfte, allgemeine Wählerklasse (Kurie) eingeführt. Da für diese der Wahlzensus wegfiel, wurde ein größerer Kreis von Wählern erfaßt. Die Sozialdemokratie hatte erstmalig Gelegenheit, ihre Vertreter ins Parlament zu schicken. (In der ersten Kurie wählen 5431 Großgrundbesitzer 85 Parlamentsabgeordnete, in der zweiten Kurie wählen 591 Kaufleute und Industrielle 21 Abgeordnete, in der dritten Kurie wählen 493804 Wähler aus der Stadtbevölkerung 118 Abgeordnete, in der vierten Kurie wählen 1 595 406 Wähler der Landbevölkerung 129 Abgeordnete, doch in der fünften Kurie der allgemeinen Stimmabgabe wählen 5 004 222 Wähler 72 Abgeordnete.

Auf diese Weise werden von 6022 Wählern aus dem reichen Adel und der Bourgeoisie zusammen (in den beiden ersten Kurien) 106 Abgeordnete gewählt, während mehr als 5 Millionen Wähler der fünften Kurie, deren Mehrheit Arbeiter sind, 72 Abgeordnete wählen! Die ersten vier Kurien zusammen, die 2 085 232 vermögende Wähler zählen, wählen 353 Abgeordnete, während 5 Millionen Wähler aus der fünften Kurie nur 72 wählen! Übrigens wird das österreichische Wahlgesetz, das der zaristischen Regierung sowohl in der ersten wie auch in der verbesserten Fassung des Bulyginschen Projekts als Vorbild diente, in Kürze eine Änderung erfahren. Unter dem Druck der stürmischen Arbeiterdemonstrationen in ganz Österreich und der Auswirkungen der russischen Revolution kündigte die Regierung schon im November 1905 die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts an.)