Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 203

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eine Verschärfung und Zuspitzung des wirtschaftlichen wie politischen Kampfes: eine umfassende Aussperrungsaktion gegen die Arbeiterschaft in der Industrie und ein Zusammenschluß aller bürgerlichen Parteien zur parlamentarischen Aussperrung der Arbeiterklasse. In Frankreich ein brutaler Feldzug der „radikalen“ Regierung gegen die Gewerkschaften und eine Reihe erbitterter Lohnkämpfe. Erregt durch das machtvolle Wachstum der proletarischen Organisationen in den letzten 15 Jahren, erschrocken durch die russische Revolution, wird der internationale Kapitalismus nervös, wild, aggressiv.

Und damit beginnt auch für die Maifeier eine neue Phase. Von Hause aus, dem Gedanken nach eine unmittelbare Kundgebung der Masse – ihre einzige direkte politische Aktion bisher außer den Wahlen –, füllt sie sich mit neuem Inhalt, mit neuem Geist in dem Maße, wie die Verschärfung des Klassenkampfes immer mehr die Rolle der proletarischen Massen wieder in den Vordergrund schiebt. Je mehr die Reaktion, die nackte Gewaltherrschaft der Bourgeoisie auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiet den proletarischen Interessen jede Handbreit streitig macht, um so mehr nähern wir uns der Zeit, wo die Massen selbst das Heft in die Hände nehmen, wo sie in eigener Person die Interessen ihrer Klassenbefreiung verfechten müssen. Diesen früher oder später unvermeidlichen Zeiten entgegenzureifen, sich für diese Zeiten mit dem Bewußtsein der eigenen Pflicht und der eigenen Macht zu rüsten, das ist gegenwärtig die Aufgabe des Proletariats, und hierzu ist die Maifeier als eine direkte Kundgebung der Masse ein Mittel. Namentlich in Deutschland muß die Antwort auf die parlamentarische Niederlage der Sozialdemokratie vom 25. Januar[1] eine imposante, gewaltige Feier des 1. Mai geben. Die Arbeitermasse muß der vereinigten reaktionären Masse der Bourgeoisie zurufen: Ihr wolltet unsere Vertretung aus eurer Gesetzgebung hinausdrängen – nun wohl, hier sind wir selbst, ihr seht uns entschlossener, geschlossener und kampffroher als je!

Zugleich tritt das andere Moment der Maifeier mit neuer Macht in den Vordergrund – die Internationalität der Arbeitersache. Solange der Klassenkampf in jedem Lande ein Mindestmaß demokratischer Ellbogenfreiheit hat und solange der parlamentarische Werktag der positiven Arbeit währt, wird die Arbeiterbewegung von dem Besonderen jedes Staatsmilieus, von der nationalen Zersplitterung beherrscht. Sobald jedoch die Grundgewalten des Klassenkampfes aus der Tiefe der kapitalistischen Gesellschaft an die Oberfläche emporsteigen, sobald der Kampf scharf an

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[1] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.