Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 207

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/207

Kampf um das allgemeine Wahlrecht für den preußischen, sächsischen und den hamburgischen Landtag in Anwendung zu bringen. Diese Frage wurde negativ entschieden, der Gedanke, eine große Massenbewegung künstlich hervorzurufen, wurde abgelehnt. Übrigens wurde am 17. Januar 1906[1] der erste Versuch gemacht: ein glänzend durchgeführter halbtägiger Massenstreik in Hamburg, der wiederum die Stimmung und das Kraftbewußtsein innerhalb der Arbeitermassen des großen Zentrums der deutschen Sozialdemokratie erhöhte.

Das darauffolgende Jahr 1906 brachte der russischen Revolution dem äußeren Anschein nach nur Niederlagen. Auch in Deutschland endete es mit einer äußeren Niederlage der Sozialdemokratischen Partei. Ihnen ist bekannt, daß die deutsche Sozialdemokratie bei den Wahlen am 25. Januar[2] fast die Hälfte ihrer Wahlkreise verloren hat. Aber auch diese parlamentarische Niederlage steht im engsten Zusammenhang mit der russischen Revolution. Für den, der das Wechselverhältnis der Parteien bei den letzten Wahlen kennt, besteht kein Zweifel, daß eines der wichtigsten Momente, die den Ausgang dieser Kampagne bestimmten, die russische Revolution war. Zweifelsohne waren die Eindrücke der revolutionären Ereignisse in Rußland und die Furcht, die sie den bürgerlichen Klassen in Deutschland einflößten, einer der Faktoren, die alle Schichten und Parteien der bürgerlichen Gesellschaft mit Ausnahme des Zentrums zu einem einzigen reaktionären Block unter einer einzigen Losung: Nieder mit der Klassenvertretung des bewußten Proletariats, nieder mit der Sozialdemokratie! vereinigten und zusammenschlossen. Noch niemals erfüllte sich der Ausspruch Lassalles über die Bourgeoisie als einer „einzigen reaktionären Masse“ so sichtbar wie bei diesen Wahlen. Dafür aber zwingt dieser Ausgang der Wahlen das deutsche Proletariat, seinen Blick mit doppelter Aufmerksamkeit auf den revolutionären Kampf seiner Brüder in Rußland zu richten. Wenn man in wenigen Worten die politische und historische Bilanz der letzten Reichstagswahlen zieht, so muß man sagen, daß Deutschland nach dem 25. Januar und dem 5. Februar 1907 das einzige moderne Land war, in dem es weder Spuren bürgerlichen Liberalismus noch einer bürgerlichen Demokratie im eigentlichen Sinne dieses Wortes gab: Sie stellten sich endgültig und unwiderruflich auf die Seite der Reaktion im Kampfe gegen das revolutionäre Proletariat. Gerade der Verrat des Liberalismus lieferte uns vor allem bei den letzten Wahlen der Macht der junkerlichen Reaktion aus, und obwohl die Liberalen gegen‑

Nächste Seite »



[1] 80 000 Hamburger Arbeiter hatten am Nachmittag des 17. Januar 1906 die Arbeit niedergelegt, um in Versammlungen und mit Straßendemonstrationen gegen die Einschränkung des Bürgerschaftswahlrechtes zu protestieren. Es war der erste politische Massenstreik in Deutschland. Während des Streiks war es zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Polizei gekommen.

[2] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.