Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 514

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er seine Studien genoß, welche Reisen er schon unternommen, und dann kam „sein“ Programm, d. h. „seine“ kommunalen Ansichten und Absichten. Von dem Gesamtprogramm der Sozialdemokratie, von den politischen Klassenbestrebungen des Proletariats war keine Rede. Doch richtig, zum Schluß wurde auch die Sozialdemokratie erwähnt. Nämlich als es galt, sich von dem Vorwurf zu reinigen, daß Dr. Lindemann ein Sozialdemokrat sei. Hier wies der Kandidat nach, daß seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie durchaus kein Hindernis für ihn sei, ein ausgezeichneter Oberbürgermeister zu werden, sondern daß dies selbst sehr zuträglich für sein kommunales Wirken sei, da der wahre Geist des Sozialismus für das allgemeine Wohl zu wirken gebiete. Das war auch alles, was die Wähler von den Bestrebungen der Sozialdemokratie, von ihrem politischen Programm erfahren haben.

Mit tiefer Beschämung muß man sagen: Derartige Wahlen hat man in der deutschen Sozialdemokratie noch nicht gesehen. Bis jetzt war für uns die Sache, die Partei alles, die Person nichts. Hier war die Partei nichts und die Person alles. Es war keine Agitation für die Sozialdemokratie und ihre Ziele, sondern eine Reklametrommel für Dr. Lindemann und seine Vorzüge. Wir wissen nicht, vielleicht bedingt das Oberbürgermeisteramt gerade eine solche Wahlagitation, die mehr an die amerikanischen Präsidentschaftswahlen als an den Wahlkampf der deutschen Sozialdemokratie erinnert. Ist dem aber so, dann hätten die Stuttgarter Genossen erst recht Grund gehabt, von dem gefährlichen Experiment ihre Finger zu lassen.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 110 vom 15. Mai 1911.

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