Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 513

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worden ist. Hier war es die Person des Kandidaten, für die allein gekämpft wurde. Seine Vorzüge, seine Verdienste, seine Absichten, sein Programm – das war es, was man immer wieder zu hören bekam. Dr. Lindemanns „lauterer Charakter“, seine „glänzende Befähigung“ für das Amt des Oberbürgermeisters, seine „anziehende, vertrauenerweckende Persönlichkeit“, sein Talent, „auch die Klinge der Polemik mit Eleganz zu führen“, seine „absolute Sachlichkeit, überlegene Ruhe, sicheres Urteil, große geistige Beweglichkeit, nicht zu erschöpfende Arbeitsfreudigkeit“, „seine großen Fähigkeiten, sein unantastbarer Charakter, die Achtung, die er in allen Volkskreisen genießt“, sein enormer Ruf als Politiker und Schriftsteller – das war es, was die „Schwäbische Tagwacht“ in allen Gassen ausschrie. Ja um den ausgezeichneten Ruf des Kandidaten als Gelehrten der Kommunalpolitik den herrschenden Kreisen in volles Licht zu rücken, packte die „Schwäbische Tagwacht“ in ihrer Beilage vom 11. Mai auf drei langen Spalten Petit die schmeichelhaften Urteile aller möglichen Professoren, Amtsblätter, ja selbst der „Berliner Morgenpost“ und der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ über den bezaubernden Kandidaten aus – eine saure Mühe, der sich wohl der Kandidat selbst mit seiner ganzen Liebenswürdigkeit unterzogen hat, denn wer sonst in der Welt hätte gleich, sorgfältig zu einem Bündel gesammelt, jedes Lorbeerblättchen bei der Hand, das irgendwann und irgendwo in der Amtsblattpresse für den Dr. Lindemann abgefallen ist? Und erst die große Kandidatenrede des Dr. Lindemann! Sie begann – nicht etwa mit dem Glaubensbekenntnis der Sozialdemokratie, sondern mit den rührendsten Daten über seine anziehende Person:

„Man redet von mir als dem Ausländer, dem Hannoveraner. Ich würde es gewiß nicht als eine Schande ansehen, Hannoveraner zu sein, aber ich muß mich doch dagegen wehren. Zwar komme ich noch viel weiter her, sogar aus Brasilien, aber ich stamme doch von Stuttgarter Bürgern ab. Mein Vater war allerdings nur ein Norddeutscher, der das Stuttgarter Bürgerrecht erwarb, um eine Stuttgarterin zur Frau zu nehmen, mit der er dann über das große Wasser nach Brasilien zog, wie so viele seiner Landsleute. Meine Mutter aber stammt aus einem alten Stuttgarter Geschlecht, und schon mein Urgroßvater saß als Stadtrat auf dem Stuttgarter Rathause. Die Verbindung mit diesem ist also schon alt!“ („Schwäbische Tagwacht“, Nr. 106.)

Nachdem so nachgewiesen war, daß Dr. Lindemann sozusagen eine erbliche Befähigung zum Stuttgarter Oberbürgermeisteramt besitzt, erzählte der Kandidat seinen Wählern mit aller breiten Behaglichkeit, wo

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