Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 512

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im Verkehr mit der Krone, als Vorbedingung für die Ausübung des Amts betrachte! Es ist ja für die weitere Partei bis jetzt ein Rätsel geblieben, welche „Organisationsbeschlüsse“ hier eigentlich gemeint waren, und es mag friedliebende Gemüter in unsrer Partei geben, die sich vielleicht an diesen Strohhalm klammerten und damit trösten möchten, daß es sich „bloß“ um die Mißachtung lokaler Stuttgarter Organisationsbeschlüsse der Partei durch den Herrn Oberbürgermeister in spe handelte. Doch ist nach dem Wortlaut der Erklärungen Lindemanns gar kein Deuteln möglich: Es sind nicht irgendwelche lokalen Beschlüsse, sondern Beschlüsse der beiden letzten Parteitage der Gesamtpartei, des Leipziger und des Magdeburger Parteitags, denen der Kandidat ungeniert ins Gesicht zu schlagen versprach, wenn er erklärte, volle Freiheit namentlich auch im Verkehr mit der Krone für sich in Anspruch zu nehmen. In jeder Partei, die die nötige Selbstachtung besitzt, müßte es eigentlich klar sein, daß ein Mann, der sich öffentlich gegen formelle und wiederholte Beschlüsse der eigenen Partei auflehnt, sich dadurch ohne weiteres außerhalb der Partei gestellt hat. Anstatt dessen geschah das Unglaubliche: Die Stuttgarter Parteiversammlung gab dem Dr. Lindemann im voraus eine regelrechte Absolution für den flagranten Disziplinbruch und ihren Segen zu denselben „monarchischen Loyalitätskundgebungen“, die die beiden letzten Parteitage aufs schärfste verurteilt hatten.

In dieser Sachlage konnte offenbar und mußte das oberste ausführende Organ der Partei, der Parteivorstand, handeln. Es war seine direkte Pflicht im Sinne des Parteistatuts, gegen den offenkundigen Disziplinbruch in bezug auf Parteibeschlüsse mit der ganzen Autorität, die ihm zu Gebote steht, vorzugehen. Obendrein handelte es sich ja um einen von ihm selbst der Partei zur Annahme empfohlenen Beschluß. Was hat der Parteivorstand getan, um seinem eigenen Antrage, um dem Willen und der Auffassung der zwei letzten Parteitage Achtung in Stuttgart zu verschaffen? Diese Frage muß sich jedem Parteigenossen in diesem Augenblick aufdrängen.

Doch nicht genug damit. Eine zweite Überraschung, die der Partei bereitet werden sollte, war der Wahlkampf selbst, wie er von dem Oberbürgermeisterkandidaten und der „Schwäbischen Tagwacht“ geführt worden ist. Bis jetzt waren wir in der Partei der Auffassung, daß uns alle Arten öffentlicher Wahlen vor allem dazu dienen, für die Sozialdemokratie und ihr Programm, ihre Auffassung, ihre Ziele die Volksmassen zu gewinnen. Nichts Ähnliches in dem Wahlkampf für den Stuttgarter Oberbürgermeister, wenigstens wie er in der „Schwäbischen Tagwacht“ geführt

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