Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 270

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müßte in der Tat blind sein, um nicht einzusehen, daß schon die bisherigen unaufhörlichen Auseinandersetzungen über die Maifeier, die zum ständigen Elend der Parteitage geworden sind, in wirksamster Weise dazu beigetragen haben und beitragen, den Gedanken der Maifeier in den breitesten Massen zu untergraben, die Tradition zu erschüttern, die Begeisterung abzukühlen, daß sie ernüchternd, enttäuschend, verwirrend, also geradenwegs dahin wirken, wohin die Gegner der Maifeier es bringen wollen. Ehedem hatte die alljährliche Behandlung der Maifeier auf den Parteitagen zum Zweck, den Gedanken des 1. Mai in den Massen lebendig zu erhalten, ihn von der höchsten Tribüne der Partei ständig zu propagieren, jetzt hat sich dies in die alljährliche Untergrabung und Kompromittierung der Maifeier verwandelt. Das Meisterstück dieser Taktik bestand allerdings darin, die Unterstützungsfrage überhaupt in den Vordergrund der ganzen Maifeierfrage zu stellen und obendrein zu erreichen, daß der Parteivorstand beauftragt wurde, mit der anderen obersten Körperschaft der Arbeiterbewegung, mit der Generalkommission der Gewerkschaften, gemeinsam die Frage zu regeln. Dem Parteivorstand und der Generalkornmission wurde dabei die doppelte Aufgabe zuteil, die entschieden auf die Aufrechterhaltung der Maifeier gerichtete Stellung der Parteimehrheit mit der mehr oder minder offen auf die Abschaffung der Maifeier gerichteten Stellung der Gewerkschaftskreise und zugleich die Abhaltung der Maifeier mit einer im voraus gesicherten ausreichenden Unterstützung aller eventuellen Opfer der Maifeier in Einklang zu bringen. Daß der Parteivorstand mitsamt der Generalkommission beim besten Willen diese doppelte Quadratur des Zirkels nicht zustande bringen konnte, muß jeder bei näherem Nachdenken begreifen. Aus den Bemühungen, diesen Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen, konnte natürlich nur eine Reihe mehr oder weniger mißglückter Kompromißversuche entstehen, mit dem Endresultat, daß „das Schmerzenskind der Partei“, wie die Maifeier nun glücklich bei Freund und Feind heißt, unter den vielen Experimenten und Operationen bald ausgelitten haben wird.

Das neueste Resultat der Verhandlungen des Parteivorstandes und der Generalkommission präsentiert sich als eine Mißgeburt schon auf den ersten Blick. Die vorjährige Abmachung der beiden obersten Instanzen lehnte die Unterstützung der Opfer der Maifeier von den Zentralkassen der Partei wie der Gewerkschaften ab und wälzte sie den Ortskassen zu. Die Mehrheit der Delegierten in Nürnberg[1] hat diese Abmachung für null

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[1] Der Parteitag der deutsdien Sozialdemokratie in Nürnberg fand vom 13. bis 19. September 1908 statt.