Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 356

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wegung von allen ökonomischen Kämpfen mit dem Kapital am Platze. Dann ist aber auch der streng politische Massenstreik von vornherein als eine halbe Maßregel zum Fiasko verurteilt, wie dies die Schicksale des belgischen Massenstreiks im Jahre 1902[1] dartun, die dem Genossen Kautsky vielleicht erklären können, warum „andererseits Belgien bis heute noch nicht das gleiche Wahlrecht besitzt“. Wollen wir hingegen den Wahlrechtskampf im Sinne rein proletarischer Taktik, das heißt als eine Teilerscheinung unseres allgemeinen sozialistischen Klassenkampfes führen, wollen wir ihn durch eine umfassende Kritik der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Klassenverhältnisse begründen und auf die eigene Macht und Klassenaktion des Proletariats allein stützen, dann ist es klar, daß eine „strenge Scheidung“ von wirtschaftlichen Interessen und Kämpfen des Proletariats zweckwidrig, ja unmöglich erscheint. Es hieße dann die Kraft und den Schwung der Wahlrechtsbewegung künstlich lähmen, ihren Inhalt ärmer machen, wollten wir nicht alles in ihr aufnehmen, sie nicht von allem tragen lassen, was die Lebensinteressen der Arbeitermassen berührt, was in den Herzen dieser Masse lebt.

Genosse Kautsky redet hier gerade jener pedantisch-engherzigen Auffassung der Wahlrechtsbewegung das Wort, die uns ohnehin bereits geschadet hat. Als wir im Jahre 1908[2] und 1909[3] den ersten Demonstrationssturm in der preußischen Wahlrechtsbewegung erlebten, bekam die Arbeiterschaft eben die Schrecken der wirtschaftlichen Krise zu kosten. Eine grauenhafte Arbeitslosigkeit herrschte in Berlin und äußerte sich in erregten Arbeitslosenversammlungen und Demonstrationen. Anstatt nun diese Arbeitslosenbewegung mit in den Strudel des Wahlrechtskampfes zu lenken, anstatt den Ruf nach Arbeit und Brot mit dem Rufe nach gleichem Wahlrecht zu verbinden, wurde umgekehrt die Sache der Arbeitslosen von der Sache des Wahlrechtes auf das strengste geschieden, und der „Vorwärts“ gab sich alle Mühe, die Arbeitslosen von den Rockschößen der Wahlrechtsbewegung öffentlich abzuschütteln. Nach dem Schema des Genossen Kautsky war dies ein weises Stück „Ermattungsstrategie“, nach meiner Auffassung war es ein Verstoß gegen die elemen‑

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[1] Am 14. April 1902 hatte in Belgien ein Massenstreik begonnen, an dem sich über 300 000 Arbeiter beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und die damit verbundene Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[2] Im Januar 1908 fanden in Berlin zahlreiche Arbeitslosenversammlungen und Demonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht statt, bei denen die Polizei brutal gegen die Demonstranten vorging.

[3] Von Januar bis März und gegen Ende des Jahres 1909 hatten in vielen deutschen Städten Zehntausende gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht demonstriert und das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Personen über 20 Jahre gefordert. – Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages. – Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Anderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen. Bei der zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1910 hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Hirsch und Karl Liebknecht erklärt, die Sozialdemokratie werde im Kampf für ein demokratisches Wahlrecht auch außerparlamentarische Mittel einsetzen.