Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 520

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„besudelt“, und zwar durch seinen Brief an den Leipziger Parteitag[1], worin er an jenem Besuche beim König festhielt, der offiziell von der Gesamtpartei als eine unter der Würde des Sozialdemokraten stehende „monarchische Kundgebung“, d. h. inhaltlich als „Lakaienbückling im höfischen Vorzimmer“, aufgefaßt und verurteilt worden ist, und die selbst die übrigen Landtagskollegen Dr. Lindemanns öffentlich bedauert haben. Es bestand also durchaus kein Grund, speziell auf die republikanische Würde des Stuttgarter Kandidaten so große Stücke zu bauen, umgekehrt mahnte gerade die Person des Kandidaten zum kräftigsten Mißtrauen.

Doch es heißt überhaupt diese Frage ins Groteskwinzige verzerren, wenn die „Schwäbische Tagwacht“ und ihre Gesinnungsgenossen sich jetzt auf das Problem konzentrieren wollen, ob der Bürgermeister vor dem Throne mit krummem oder mit geradem Rücken stehen soll. Es sind hier die „Realpolitiker“, die sich an den äußeren Schein der Dinge klammern. Der Verkehr mit der Krone ist aber keine Zeremonie, keine Frage der Etikette oder der Höflichkeit, sondern er entspricht dem Charakter des Amts eines Oberbürgermeisters in der monarchischen Residenzstadt. Hier besteht ein großer Unterschied zwischen der Formalität eines Treueids, den z. B. unsre sächsischen Landtagsabgeordneten leisten mußten, und den monarchischen Repräsentationspflichten eines Oberbürgermeisters. Der Treueid in Sachsen war eine reaktionäre Formel, die mit dem Wesen und der Tätigkeit des Landtagsabgeordneten nichts zu tun hatte. Im Gegenteil, die Sozialdemokraten gingen in den Landtag hinein, um Gesetze zu machen, um die Verfassung zu ändern, um die bestehende reaktionäre Verfassung und Gesetzgebung zu bekämpfen. Der Oberbürgermeister ist ein Beamter, er kann und soll keine Gesetze machen oder ändern, er soll sie nur getreu ausführen. Und die gesetzliche Stellung des Oberbürgermeisters, die ihm seinen Titel als eine monarchische Verleihung gewährt, die seine Bestätigung von dem freien Gutdünken des Königs ohne Widerruf abhängig macht, die ihn halb zum Kommunalbeamten und halb zum Hilfsorgan der Staatsregierung macht (Art. 63 der württembergischen Gemeindeordnung), deren Aufträge für ihn in allen Dingen verpflichtend sind, diese gesetzliche Stellung macht den Oberbürgermeister der Residenz trotz der direkten Wahlen zu einem königlichen Beamten, der nicht aus weltmännischem Takt, sondern aus Dienstpflicht mit der Krone verkehrt,

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[1] Am 18. September 1909 war den Delegierten des Leipziger Parteitages mitgeteilt worden, daß sich Dr. Hugo Lindemann in einem Brief von der Erklärung distanziere, in der württembergische Abgeordnete am 15. September ihre Teilnahme an einer monarchischen Kundgebung bedauert hatten. (Siehe dazu Rosa Luxemburg: Der Disziplinbruch als Methode. In: GW, Bd. 2, S. 509–514.)