Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 282

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sche Bewegung zwischen kleinbürgerlich-reformistischem Praktizismus und anarchistischer Geistesverödung haltlos hin und her schwanken muß – die Vereinigung des gegenwärtigen Tageskampfes mit dem revolutionären Prinzip, der Praxis mit der wissenschaftlichen Theorie –, dies der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie, ihrer heutigen Größe und der in ihr verborgenen gewaltigen Kräfte, die sie erst in der Zukunft entfalten wird. Und dasselbe Verständnis für die Notwendigkeit und Vereinigung des praktischen Tageskampfes mit den revolutionären Prinzipien des Sozialismus ist der Schlüssel zum Verständnis des beispiellosen Einflusses, den Bebel auf die Geschicke der deutschen Sozialdemokratie seit bald einem halben Jahrhundert ausübt. Nur weil er vom ersten Anfang seiner Laufbahn als Kämpfer des Sozialismus und bis in seine alten Tage mit gleicher Festigkeit, Klarheit und Hingebung den beiden Leitsternen der Sozialdemokratie treu geblieben ist, nur weil er jederzeit für die Anforderungen der Praxis wie für die Anforderungen der revolutionär-prinzipiellen Taktik gleiches Verständnis hatte, nur weil er niemals die eine Seite der Bewegung der anderen opferte, weil ihm nie die tägliche Mühe des harten Kampfes zu öde und zu kleinlich vorkam, um aus dem Steinfelsen der bürgerlichen Ordnung einige karge Tropfen der Linderung für die verhungernden und verdurstenden Massen zu schlagen, aber auch das sozialistische Endziel des Weges ihm nie zum fernen, schwachschimmernden Sternchen verblaßte, sondern stets wie eine strahlende und wärmende Sonne alle Pfade beleuchtete: nur deshalb konnte Bebel zum geliebten Führer der Millionen werden. Tausende, später Hunderttausende, zuletzt Millionen deutscher Proletarier leisteten ihm Gehorsam und Gefolgschaft, weil Bebel wie kein anderer es verstand, die rastlose Kampflust und Zähigkeit dieser Millionen im Erobern jeder Handbreit eines menschenwürdigen Daseins sowie auch ihren revolutionären Idealismus zu erfassen, diesen politischen Tugenden Worte zu verleihen, sie zur Tat zu schmieden.

Schon seit Mitte der sechziger Jahre, als Leiter der deutschen Arbeiterbildungsvereine, beginnt er mit der Praxis, betätigt er sich als Organisator großen Stiles, als Tagespolitiker großen Kalibers. Kaum hatte das deutsche Proletariat seine elementarste politische Waffe, das Wahlrecht zum Norddeutschen Reichstag, gewonnen, ist Bebel der erste, der nicht nur, entgegen der Opposition anderer, ohne Schwankung zum Gebrauch dieser Waffe rät, sondern sie selbst zu gebrauchen lehrt und damit ein gewaltiges neues Feld praktischer Arbeit für das Proletariat erobert. Um dieselbe Zeit aber schreibt Bebel an Albert Lange aus Anlaß der fünften Tagung der deut‑

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