Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 411

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machen, die der Proletarier noch eher als die der Kapitalisten, er müßte also unfehlbar gerade in dem Moment zusammenbrechen, in dem er seine revolutionäre Wirksamkeit zu entfalten begänne.

Der Streik als politisches Kampfmittel wird kaum je, sicher nicht in absehbarer Zeit, die Form eines Streikes aller Arbeiter eines Landes annehmen … Wir gehen einer Zeit entgegen, wo gegenüber der Übermacht der Unternehmerorganisationen der isolierte, unpolitische Streik ebenso aussichtslos sein wird, wie gegenüber dem Druck der von den Kapitalisten abhängigen Staatsgewalt die isolierte parlamentarische Aktion der Arbeiterparteien. Es wird immer notwendiger werden, daß beide sich ergänzen und aus ihrem Zusammenwirken neue Kräfte saugen.

Wie der Gebrauch jeder neuen Waffe, so muß auch der des politischen Streiks erst gelernt werden.“[1] [Hervorhebung – R. L.]

So hat Genosse Kautsky, je mehr er zur Rechtfertigung seiner Stellungnahme im preußischen Wahlrechtskampf zu breiten theoretischen Verallgemeinerungen ausholte, um so mehr die allgemeinen Perspektiven der Entwicklung des Klassenkampfes in Westeuropa und in Deutschland aus dem Auge verloren, die zu zeichnen er selbst in den letzten Jahren nicht müde wurde. Er hat wohl auch selbst das unbehagliche Gefühl der Inkongruenz seiner jetzigen mit seinen früheren Gesichtspunkten gehabt und war deshalb so zuvorkommend, im letzten, dritten Teil seiner Replik gegen mich seine Artikelserie aus dem Jahre 1904 „Allerhand Revolutionäres“ ausführlich zu reproduzieren. Der krasse Widerspruch ist freilich dadurch nicht aus der Welt geschafft, er hat nur den chaotischen, schillernden Charakter jenes letzten Artikelteils verursacht, der den Genuß bei dessen Lektüre so ungemein beeinträchtigt.

Doch nicht jene Artikelserie allein bildet eine schrille Dissonanz mit dem, was Genosse Kautsky jetzt ausführt. In seiner „Sozialen Revolution“ lesen wir von einer ganzen langen Periode revolutionärer Kämpfe, in die wir eintreten werden und in denen der politische Massenstreik „sicher eine große Rolle spielen“ wird (S. 54). Die ganze Broschüre „Der Weg zur Macht“ ist der Schilderung derselben Perspektiven gewidmet. Ja, hier sind wir bereits in die revolutionäre Periode eingetreten. Hier revidiert Genosse Kautsky das „politische Testament“ von Friedrich Engels und erklärt, die Zeit der „Ermattungsstrategie“, die ja in der gesetzlichen Ausnutzung der gegebenen staatlichen Grundlage besteht, sei bereits vorüber:

„Anfangs der neunziger Jahre“, sagte er, „habe ich anerkannt, daß eine ruhige Weiterentwicklung der proletarischen Organisationen und des pro‑

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[1] Karl Kautsky: Die Soziale Revolution. Teil I: Sozialreform und soziale Revolution, S. 55.