Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 406

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Unmöglichkeit selbst kurzer allgemeiner Demonstrationsmassenstreiks in Preußen ausführt. Es soll „gar nicht daran zu denken“ sein, „daß bei uns in einem Demonstrationsstreik gegen die Regierung Stadtbahnen, Straßenbahnen, Gaswerke zum Stillstand kommen“, daß wir in Deutschland einen Demonstrationsstreik erleben, der „das ganze Straßenbild ändert und dadurch auf die gesamte bürgerliche Welt wie auch auf die indifferentesten Schichten des Proletariats den tiefsten Eindruck macht“[1]. Dann müßte aber in Deutschland undenkbar sein, was in Galizien, in Böhmen, in Italien, in Ungarn, in Triest, Trient, in Spanien, in Schweden sich als möglich erwiesen hat. In allen diesen Ländern und Städten haben glänzende Demonstrationsstreiks stattgefunden, die „das Straßenbild“ gänzlich veränderten. In Böhmen herrschte am 20. November 1905 eine absolut allgemeine Arbeitsruhe, die sich selbst auf die Landwirtschaft erstreckte, was man in Rußland noch nicht erlebt hat. In Italien haben im September 1904 die Landarbeiter, die Trambahnen, Elektrizitäts- und Gaswerke gefeiert, sogar die gesamte Tagespresse hatte ihr Erscheinen einstellen müssen. „Es ist wohl der vollständigste Generalstreik gewesen“, schrieb die „Neue Zeit“, „den die Geschichte kennt: man hatte drei volle Tage die Stadt Genua ohne Licht und Brot und Fleisch gelassen, man hatte das ganze wirtschaftliche Leben unterbunden.“[2] In Schweden waren in der Hauptstadt Stockholm sowohl 1902 wie 1909 in der ersten Woche sämtliche Verkehrsmittel – Straßenbahnen, Droschken, Rollfuhren, kommunale Arbeiten – stillgelegt. In Barcelona ruhte 1902 das gesamte wirtschaftliche Leben mehrere Tage.

Wir bekämen so schließlich in dem Preußen-Deutschland mit seiner „stärksten Regierung der Gegenwart“ und seinen besonderen „deutschen Verhältnissen“, die allerlei Unmöglichkeiten der proletarischen Kampfweise erklären sollen, die in der ganzen übrigen Welt möglich sind, ein unerwartetes Gegenstück zu jenen besonderen „bayerischen“ und „süddeutschen“ Verhältnissen, die Genosse Kautsky seinerzeit mit uns anderen so weidlich auslachte. Namentlich aber machen sich diese deutschen „Unmöglichkeiten“ schön angesichts der Tatsache, daß wir ja gerade in Deutschland die stärkste Partei, die stärksten Gewerkschaften, die beste Organisation, die größte Disziplin, das aufgeklärteste Proletariat und den größten Einfluß des Marxismus haben. Wir kämen ja auf diese Weise tatsächlich zu dem eigentümlichen Resultat, daß, je stärker die Sozialdemokratie, um so ohnmächtiger die Arbeiterklasse ist. Ich meine aber, sagen,

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[1] K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 370.

[2] Oda Olberg: Der italienische Generalstreik. In: Neue Zeit, XXIII, 1, S. 19. [Fußnote im Original]