Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 397

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schen Reiches waren die sozialen, politischen, internationalen Gegensätze niemals so gespannt wie jetzt“[1]. Wenn nun aber allgemein die sozialen Bedingungen, der geschichtliche Reifegrad in „Westeuropa“ und namentlich in Deutschland eine Massenstreikaktion unmöglich machen, wie kann dann auf einmal „jeden Augenblick“ eine solche Aktion ins Werk gesetzt werden? Eine brutale Provokation der Polizei, ein Blutvergießen bei einer Demonstration können plötzlich die Erregung der Massen sehr steigern und die Situation verschärfen, sie können aber offenbar nicht jener „stärkste Anlaß“ sein, der plötzlich die ganze wirtschaftliche und politische Struktur Deutschlands umstülpt.

Genosse Kautsky hat aber noch weiter etwas Überflüssiges bewiesen. Sind die allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in Deutschland derartige, daß sie eine Massenstreikaktion in der Art der russischen unmöglich machen, und ist die Ausdehnung, die der Massenstreik in der russischen Revolution angenommen hatte, das Ergebnis der spezifisch russischen Rückständigkeit, dann ist nicht bloß die Anwendung des Massenstreiks im preußischen Wahlrechtskampf, sondern der Jenaer Beschluß überhaupt in Frage gestellt. Bis jetzt wurde der Beschluß des Jenaer Parteitags[2] als eine so hochbedeutsame Kundgebung im In- und Ausland betrachtet, weil er offiziell den Massenstreik als politisches Kampfmittel dem Arsenal der russischen Revolution entlehnte und der Taktik der deutschen Sozialdemokratie einverleibte. Freilich wurde dieser Beschluß formal so gefaßt und von manchen ausschließlich so ausgelegt, daß die Sozialdemokratie erklärte, nur im Falle der Verschlechterung des Reichstagswahlrechtes den Massenstreik anwenden zu wollen. Jedenfalls gehörte aber Genosse Kautsky früher nicht zu jenen Formalisten, denn er schrieb ja schon im Jahre 1904 ausdrücklich: „Lernen wir vom belgischen Beispiel, dann werden wir zur Überzeugung kommen, es wäre für uns in Deutschland ein verhängnisvoller Fehler, wollten wir uns auf die Proklamierung des politischen Streiks für einen bestimmten Termin, etwa für den Fall der Verschlechterung des gegenwärtigen Reichstagswahlrechtes [Hervorhebung – R. L.], festlegen.“[3] Die Hauptbedeutung, der eigentliche Inhalt des Jenaer Beschlusses lag in der Tat nicht in dieser formalistischen „Festlegung“, sondern in der Tatsache, daß die deutsche Sozialdemokratie grundsätzlich die Lehren und das Beispiel der russischen Revolution akzeptierte. Es war der Geist der russischen Revolution, der die Tagung

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[1] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 80.

[2] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

[3] K. Kautsky: Allerhand Revolutionäres. In: Neue Zeit, XXII, 1, S. 736. [Fußnote im Original]