Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 396

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Im Mittelpunkt der „Ermattungsstrategie“ stand der Hinweis auf die kommenden Reichstagswahlen[1]. Mein unverzeihlicher Fehler lag ja darin, daß ich schon im gegenwärtigen Kampfe um das preußische Wahlrecht den Massenstreik für angebracht hielt, während Genosse Kautsky erklärte, daß erst unser künftiger gewaltiger Sieg bei den Reichstagswahlen im nächsten Jahre die „ganz neue Situation“ schaffen werde, die den Massenstreik notwendig und angebracht machen dürfte. Nun hat aber Genosse Kautsky jetzt mit aller wünschenswerten Klarheit bewiesen, daß für eine Periode politischer Massenstreiks in ganz Deutschland, ja in ganz Westeuropa überhaupt die Bedingungen fehlen. „Wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Bewegung, sozialdemokratischer Organisation und politischer Freiheit“ seien in Westeuropa sogar einfache Demonstrationsmassenstreiks von dem Umfang und der Wucht der russischen fast unmöglich geworden. Ist dem aber so, dann erscheinen die Aussichten auf den Massenstreik nach den Reichstagswahlen ziemlich problematisch. Es ist klar, daß all die Bedingungen, die den Massenstreik in Deutschland überhaupt unmöglich machen: die stärkste Regierung der Gegenwart und ihr glänzendes Prestige, der Kadavergehorsam der Staatsarbeiter, die unerschütterliche trotzige Macht der Unternehmerverbände, die politische Isolierung des Proletariats, daß all das nicht bis zum nächsten Jahre plötzlich verschwinden wird. Liegen die Gründe, die gegen den politischen Massenstreik sprechen, nicht mehr in der momentanen Situation, wie es noch die „Ermattungsstrategie“ wollte, sondern gerade in den Resultaten des „halben Jahrhunderts sozialistischer Aufklärung und politischer Freiheit“, in dem hohen Entwicklungsgrad des ökonomischen und politischen Lebens „Westeuropas“, dann erweist sich die Verschiebung der Erwartungen auf einen Massenstreik von jetzt auf das nächste Jahr nach den Reichstagswahlen bloß als ein bescheidenes Feigenblatt der „Ermattungsstrategie“, deren einziger reeller Inhalt demnach in der Empfehlung der Reichstagswahlen besteht. Ich habe in meiner ersten Antwort[2] darzulegen gesucht, daß die „Ermattungsstrategie“ in Wirklichkeit auf „Nichtsalsparlamentarismus“ hinausläuft. Genosse Kautsky bestätigt dies jetzt selbst durch seine theoretischen Vertiefungen.

Noch mehr. Genosse Kautsky verschob zwar die große Massenaktion auf die Zeit nach den Reichstagswahlen, er mußte aber gleichzeitig selbst zugeben, daß der politische Massenstreik bei der jetzigen Situation „jeden Augenblick“ notwendig werden könne, denn „seit dem Bestand des Deut-

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.

[2] Rosa Luxemburg: Ermattung oder Kampf? In: GW, Bd. 2, S. 344–377.