Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 192

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/192

völkerung ausgeübt und uns dadurch viele Stimmen entzogen haben. Die Wirkung aller dieser Ursachen ist nicht zu bestreiten, aber bei Erscheinungen, die so allgemein auftreten, wie es bei diesen Wahlen der Fall war, bei Ursachen, die nicht nur in einzelnen Kreisen, sondern in gleicher Weise im ganzen Reiche gewirkt haben, angesichts so großer allgemeiner Vorgänge kann man sich zur Erklärung nicht mit einer Sammlung von Einzelheiten begnügen. So große Vorgänge müssen Ursachen haben, die mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in Deutschland zusammenhängen. – Gewiß ist bei den Wahlen mit Verleumdung und Terrorismus gegen uns gearbeitet worden, aber genügt das, um den Wahlausfall zu erklären? Man muß doch fragen, wie war es möglich, daß in Rußland, wo doch das höchste Maß von Druck und Verleumdung gegen die Sozialdemokraten angewandt worden ist, die Sozialdemokratie als Siegerin aus den jüngsten Wahlen zur Duma hervorgegangen ist, obgleich sie in Rußland erst seit Beginn der Revolution überhaupt als Massenpartei zählt.

Es ist kein Zweifel, daß große Schichten des Volkes, die sich früher nicht an den Wahlen beteiligten, sich diesmal gegen uns erhoben haben und daß es dadurch gelang, uns 40 Mandate zu entreißen. Das Gros dieser Leute gehört dem Mittelstande an, ein kleiner Teil mag auch zur Arbeiterklasse gehören. Wie kommt es, daß der Mittelstand in solchem Maße gegen uns ins Feld geführt werden konnte? Der Hinweis darauf, daß der Mittelstand infolge seiner Zwitterstellung zwischen Bourgeoisie und Proletariat die unzuverlässigste, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite schwankende Klasse sei, ist keine ausreichende Erklärung für den Ausfall der Wahl. Hat doch dasselbe Kleinbürgertum, welches jetzt im Kampfe gegen uns mit der Bourgeoisie gemeinsame Sache gemacht hat, in den revolutionären Bewegungen der Vergangenheit zusammen mit dem Proletariat gegen die herrschenden Klassen gekämpft. Angesichts des Wahlausfalles müssen wir fragen: Welches waren die Bedingungen, die das Kleinbürgertum veranlaßten, in dem Wahlkampf gerade die Stellung einzunehmen, die es eingenommen hat? Warum nahm das Kleinbürgertum eine Schwenkung vor, die sich gegen uns richtet? Wenn man auf den schwankenden Charakter des Kleinbürgertums rechnet, dann nimmt man ohne weiteres an, daß wir die uns abtrünnig gewordenen Wähler aus diesen Schichten bei der nächsten Wahl wieder für uns gewinnen. Aber wir müssen nicht nur nach den Ursachen der Mandatsverluste fragen, sondern die ganze Reichstagswahl als eine einzige große Erscheinung betrachten.

Nächste Seite »