Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 193

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Worin besteht nun das Resultat der Wahl für uns? Wir haben annähernd die Hälfte unserer Mandate verloren. Wer aber glaubt, daß dadurch unsere politische Macht geschwächt sei, der überschätzt den Einfluß des Parlamentarismus. Wir sind eine revolutionäre Massenpartei. Unsere politische Macht liegt deshalb nicht in der Zahl der Reichstagsmandate, sondern in der Zahl unserer Anhänger im Volke. Wir unterschätzen die parlamentarische Arbeit nicht, aber wir müssen uns auch darüber klar sein, daß wir als geborene Minderheitspartei sehr wenig Einfluß auf die Gesetzgebung haben. Was wir an Gesetzen zugunsten der Arbeiter erreicht haben, das ist nicht der Zahl unserer Abgeordneten zu danken, sondern dem Druck der Massen, die hinter ihnen stehen. In erster Linie haben unsere Abgeordneten die Reichstagstribüne zur Vertretung und Verbreitung unserer grundsätzlichen Auffassung zu benutzen. In bezug hierauf ist es ohne Bedeutung, ob wir 80 oder 40 Vertreter im Reichstage haben, auch ist die agitatorische Benutzung der Reichstagstribüne heute nicht mehr so bedeutungsvoll wie früher, wo es galt, die Ziele einer kleinen, noch wenig bekannten Partei öffentlich darzulegen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, hat der Mandatsverlust für uns nur sekundäre Bedeutung. Viel wichtiger ist dagegen die Verschiebung innerhalb der Wählermasse. Um hierüber ein Urteil zu gewinnen, müssen wir fragen: Was hat den Mittelstand gegen uns ins Feld geführt?

Der Wahlkampf ist geführt worden unter der Parole der Kolonialpolitik.[1] Warum konnte diese Parole eine so große Wirkung ausüben? Wer nicht schon durch unsere Agitation gegen die Kolonialpolitik von der Wertlosigkeit der deutschen Kolonien überzeugt war, der hätte davon überzeugt werden müssen durch die Kolonialreklame und durch den Humbug der Kolonialfreunde. Der wirtschaftliche Wert der Kolonien für das Bürgertum war es nicht, was die Wirkung, die wir gesehen haben, ausübte, sondern vielmehr die ganze Konstellation. Die Kolonialpolitik wurde nicht als eine Detailfrage der Politik in den Wahlkampf geworfen, sondern sie ist zum Symbol der Politik gemacht worden, welche sich gegen die Sozialdemokratie richtet. Unter dem Symbol der Kolonialpolitik haben sich die Anhänger der bürgerlichen Weltanschauung zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie gesammelt. Aber nicht nur diese, sondern noch eine andere Tatsache erklärt den Umschwung der Stimmung im Kleinbürgertum. Die russische Revolution hat den Glauben an die uner‑

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[1] Im Wahlkampf zur Reichstagswahl wurde eine chauvinistische Propaganda für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Hottentotten (Im Jahre 1904 hatten sich in Südwestafrika die Völker der Hereros und Hottentotten gegen die imperialistische Kolonialherrschaft erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker, nachdem die deutschen Kolonialtruppen mit äußerster Grausamkeit drei Jahre lang gegen sie vorgegangen waren.) in Afrika betrieben und der Nationalismus des Kleinbürgertums geschürt.