Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 194

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/194

schütterliche Macht des Bürgertums erschüttert. Man hielt, selbst in unseren Reihen, die Zeit der Straßenkämpfe für abgetan, und nun sah man diese Form des revolutionären Kampfes in Rußland aufs neue angewandt, und zwar mit Erfolg. Hätte die russische Revolution nur die Einführung des bürgerlichen Verfassungsstaates zum Ziel gehabt, dann würde sich das deutsche Bürgertum damit abgefunden haben. Aber die Bewegung ging. von der liberalen zur sozialen Frage über. Der Gegensatz zwischen Bauer und Großgrundbesitzer, zwischen Arbeiter und Kapitalist trat in den Vordergrund. Die russische Revolution wurde zu einem gewaltigen sozialen Kampf aller Ausgebeuteten gegen alle Ausbeuter, sie zeigte eine Machtentfaltung des Proletariats, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Mit Schrecken sieht das Bürgertum, daß das Proletariat eine neue Waffe, den Massenstreik, im revolutionären Kampfe mit Erfolg anwendet. Das gibt auch dem deutschen Bürgertum den Gedanken ein: Der Massenstreik ist eine Waffe, die nicht nur auf Russisch gebraucht werden kann. Das deutsche Bürgertum sieht, daß auch das deutsche Proletariat die Anwendung des Massenstreiks in Betracht zieht, und es sieht, was geschehen kann, wenn das deutsche Proletariat gelernt hat, diese Waffe zu gebrauchen. Wenn man das alles betrachtet, dann erst ist die Wirkung der Kolonialpolitik als Wahlparole verständlich. Es handelt sich ja bei der Kolonialpolitik um ein geradezu lächerliches Objekt, aber was den großen Eindruck auf die Massen des Bürgertums machte, das ist nicht das Objekt, sondern das Wagnis, das kühne Draufgängertum, womit die Regierung dieses Zerrbild einer Kolonialpolitik in den Mittelpunkt des Wahlkampfes rückte. Das hat dem Kleinbürgertum imponiert, und es fiel deshalb auf diese Politik hinein. Aus diesem Vorgang könnten übrigens auch wir lernen, daß in einer gegebenen Situation durch kühnes Wagen viel erreicht werden kann, während Zaghaftigkeit und Mangel an Selbstvertrauen die günstigsten Gelegenheiten verpfuscht.

Die Reichstagswahl war eine parlamentarische Junischlacht des Kleinbürgertums gegen die Sozialdemokratie, ein Kampf einer absterbenden gegen eine aufstrebende Klasse, also ein Klassenkampf von reinstem Wasser. Diese Vorgänge zeigen uns, daß das so viel angezweifelte Wort Lassalles von der einen reaktionären Masse, die uns gegenübersteht, sich vollauf bestätigt hat. Jaurès gibt uns den freundlichen Rat, wir sollten in ein freundschaftliches Verhältnis zum Liberalismus treten, um dem Liberalismus Gelegenheit zu geben, zu zeigen, was er leisten kann. Nun, der Liberalismus hat am 25. Januar und am 5. Februar gezeigt, was er leisten kann. Vom Liberalismus haben wir in Deutschland nichts mehr zu erwar‑

Nächste Seite »