ten. Einer der Hauptgründe, worauf sich unser Revisionismus stützt, ist der: Der deutsche Mittelstand sei noch nicht so weit zurückgegangen, wie es der Fall sein müßte, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung in der Weise vollzöge, wie es Marx angegeben hat. Für diese Ansicht werden die Zahlen der Statistik ins Feld geführt. Die Zahlen beweisen aber an sich nichts, man muß sie an den tatsächlichen Vorgängen prüfen. Wenn wir aber die Vorgänge im politischen Leben prüfen, so sehen wir, daß sich hier die Verhältnisse, welche sich durch die wirtschaftliche Entwicklung herausgebildet haben, verspätet widerspiegeln. Der Ausfall der Wahlen zeigt uns Deutschland als ein bürgerliches Land, welches keine Partei des Mittelstandes hat. Wir können an dieser Tatsache ermessen, wie hoch die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse in Deutschland schon gediehen sein muß, wenn der Mittelstand keine politische Vertretung mehr hat, wenn es keinen Liberalismus mehr gibt. Von allen Ländern Westeuropas ist Deutschland für eine Katastrophe am reifsten, denn hier sind die Klassengegensätze am schärfsten ausgeprägt.
Die letzte Reichstagswahl ist der Abschluß der bisherigen und der Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung, sie zeigt uns, daß die nächste politische Entwicklung unter dem Zeichen der Weltpolitik steht. Weltpolitik bedeutet Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik. Das ist der Strudel, dem der Kapitalismus entgegenstürmt und in dem er mit Mann und Maus unterzugehen verdammt ist. Die Schwenkung des Mittelstandes bedeutet, daß der letzte Widerstand des Bürgertums gegen die Weltpolitik geschwunden ist. Es ist kein Zweifel, daß sich das offizielle Deutschland in diesen gefährlichen Strudel schleudern wird. In der inneren und der äußeren Politik hört jetzt jede Mittelstandsretterei auf. Der weltpolitische Kurs braucht die großkapitalistische Entwicklung. Die Opposition des Bürgertums braucht er nicht mehr zu fürchten, denn ihre letzten Reste sind bei der Wahl für immer geschwunden. Weltpolitik und Liberalismus lassen sich nicht miteinander vereinen. Calwer glaubt allerdings, man könne Weltpolitik treiben und trotzdem Sozialdemokrat bleiben.[1] Ich begreife nicht, wie Genosse Bebel es für nötig halten konnte, den Mantel der Liebe über Calwer zu decken und ihn im Reichstage unter die schützenden Fittiche der Partei zu nehmen. Als die betreffende Äußerung, in der sich Calwer für die Kolonialpolitik erklärt, im Reichstage gegen uns angeführt wurde, sagte Genosse Bebel, man solle nur die Ausführung Calwers weiterlesen, der trete dafür ein, daß die Kaufmannschaft, die den
[1] Richard Calwer hatte in dem Artikel „Der 25. Januar“ in den „Sozialistischen Monatsheften“, Jg. 1907, Nr. 2, die imperialistische Kolonialpolitik der Regierung befürwortet.