Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 196

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Vorteil von der Kolonialpolitik hat, auch die Kosten derselben tragen solle. Das, habe Bebel gesagt, sei auch unser Standpunkt, uns könne es recht sein, wenn bei der Kolonialpolitik die Kosten von den Interessenten getragen werden. – Nein, sagte die Rednerin, das ist nicht unser Standpunkt. Abgesehen davon, daß ja das Kapital aus der Ausbeutung der Arbeiter kommt, dürfen wir die Kolonialpolitik nicht aus dem kleinlichen Gesichtspunkt der Kostenfrage beurteilen. Wir sind grundsätzliche Gegner der Kolonialpolitik, denn wo die Kolonialpolitik herrscht, da geht die Sozialpolitik flöten.

Wir haben in Deutschland keinen Liberalismus und im deutschen Reichstag keine bürgerliche Opposition mehr. Was bedeutet aber ein bürgerliches Parlament ohne bürgerliche Opposition? Man hält das Zentrum für eine Oppositionspartei. Auch in der sozialdemokratischen Wahlpolitik ließ sich von dieser Ansicht etwas spüren. Wenn gewisse Abtönungen in unserer Politik aus Rücksicht auf den vermeintlich oppositionellen Charakter des Zentrums zurückzuführen sind, so ist das die Folge einer oberflächlichen Auffassung. Wenn auch das Zentrum zuweilen die Rolle einer Oppositionspartei spielt, so ist das eine Opposition, die nicht fortschrittlichen, sondern rückschrittlichen Tendenzen entspringt, eine Diplomatie, welche die Regierung den reaktionären Bestrebungen des Zentrums dienstbar machen will und auf derselben Stufe steht wie die Opposition der konservativen Kanalrebellen[1]. Im Parlament sehen wir dieselbe Zuspitzung der Klassengegensätze wie in der wirtschaftlichen Entwicklung. Nur die Sozialdemokratie ist eine Oppositionspartei, und als revolutionäre Oppositionspartei steht sie zu allen anderen Parteien im Gegensatz. Weil dem so ist und weil wir bei der Wahl die Angehörigen des Mittelstandes verloren haben, sind wir verpflichtet, reine proletarische Klassenpolitik zu treiben. Damit ist nicht gesagt, daß wir im Reichstage ganz neue Bahnen einschlagen sollen. Es muß mehr Nachdruck gelegt werden auf solche Gesetze, die die Lage der Arbeiter verbessern, als auf Gesetze nach Art der Lex Heinze[2]. Reine Arbeiterforderungen müssen als Gesetzvorschläge eingebracht werden.

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[1] Im August 1899 war eine von der Regierung im preußischen Landtag eingebrachte Vorlage zum Bau eines Verbindungskanals zwischen Rhein, Ems, Weser und Elbe von den ostelbischen Agrariern zu Fall gebracht worden, da sie ein Sinken der Getreidepreise infolge billiger Einfuhrmöglichkeiten und die Abwanderung der Landbevölkerung in die Industriezentren befürchteten, gleichzeitig auch einen Druck auf die Zollpolitik ausüben wollten.

[2] Der Prozeß gegen den Zuhälter Gotthilf Heinze von 1892 hatte im Jahre 1900 eine Novelle zum Strafgesetzbuch zur „Hebung der Sittlichkeit“ veranlaßt. Die wichtigsten Bestimmungen, die sogenannten Theater- und Kunstparagraphen, durch die die künstlerische und literarische Freiheit stark eingeschränkt worden wäre, wurden durch eine breite Massenbewegung zu Fall gebracht.