Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 388

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ökonomische Rückständigkeit und ein Bauerntum, das bis zum Jahre 1905 an den Zaren wie an einen Gott glaubte, in Deutschland die stärkste ökonomische Entwicklung, bei der die konzentrierte Macht der Unternehmerverbände die Arbeitermasse durch äußersten Terrorismus niederhält; in Rußland gänzlicher Mangel an politischen Freiheiten, in Deutschland politische Freiheit, die den Arbeitern vielerlei Formen für ihren Protest und ihren’Kampf „ohne Risiko“ verschafft, so daß sie „Vereine, Versammlungen, Presse, Wahlen aller Art vollauf beschäftigen“[1]. Und das Ergebnis dieser Kontraste ist: in Rußland war das Streiken die einzig mögliche Form des proletarischen Kampfes, deshalb war das Streiken an sich schon ein Sieg, wenn es auch planlos und ergebnislos war, ferner war jeder Streik an sich schon politische Tat, weil die Streiks verboten waren, in Westeuropa hingegen – hier erweitert sich das Schema Deutschlands auf ganz Westeuropa – sind solche „amorphen, primitiven Streiks“[2] eine längst überwundene Sache, hier streike man nur noch, wenn ein positiver Erfolg zu erwarten sei. Die Moral aus alledem ist die, daß die lange revolutionäre Periode der Massenstreiks, in denen die ökonomische und politische Aktion, die Demonstrations- und die Kampfstreiks beständig einander ablösten und ineinanderspielten, ein spezifisches Produkt der russischen Rückständigkeit darstellt. In Westeuropa und speziell in Deutschland sei sogar ein Demonstrationsmassenstreik nach der Art der russischen äußerst schwierig, fast unmöglich, „nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Bewegung“[3], der politische Massenstreik als Kampfmittel könne hier nur als ein einmaliger, letzter Kampf „auf Leben und Tod“ in Anwendung kommen, wo es sich nur noch darum für das Proletariat handeln könne, zu siegen oder zugrunde zu gehen.

Ich will nur im Vorbeigehen darauf hinweisen, daß die Schilderung, die Genosse Kautsky von den russischen Verhältnissen gibt, in den wichtigsten Punkten fast total verkehrt ist. Das russische Bauerntum zum Beispiel fing nicht erst 1905 plötzlich an zu rebellieren, sondern seine Aufstände ziehen sich seit der sogenannten Bauernbefreiung im Jahre 1861[4] – mit alleiniger Ruhepause zwischen 1885 und 1895 – wie ein roter Faden durch die innere Geschichte Rußlands, und zwar sowohl Aufstände gegen die Gutsbesitzer wie tätlicher Widerstand gegen die Regierungsorgane; ist doch dadurch das bekannte Rundschreiben des Ministers des Innern vom

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[1] Siehe ebenda, S. 369.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda, S. 370.

[4] Im Jahre 1861 wurde in Rußland die Leibeigenschaft aufgehoben, doch blieben die sozialen Widersprüche trotz dieser und einiger anderer Reformen bestehen.